Nichts als Erlösung
…«
»Ja?« Judith geht auf die Nachbarin zu.
»Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, vielleicht war es ja nur Einbildung, ich hab das auch nie ernst genommen, es war ja außer mir nie jemand in dem Haus, es war immer alles an seinem Platz, aber jetzt …« Regina Sädlich stockt, schließt die Augen, gibt sich dann einen Ruck. »Es roch manchmal anders da drin«, flüstert sie. »Nein, eigentlich roch es gar nicht, aber die Luft wirkte nicht mehr so abgestanden, irgendwie lebendig. Als ob das Haus atmen würde, kam es mir vor.«
***
Es läuft gut, es läuft spitze! Als kleinen Lohn zwischendurch gönnt er sich in der Kantine ein Extra-Schokodessert und einen doppelten Espresso.
»Wir haben dich auf’m Plan«, sagt der Chef vom Dienst im Vorbeigehen, »hab gerade mit Berlin telefoniert. Wenn du es schaffst, diese Todeshaus-Story neu aufzurollen, bist du auf Seite eins, bundesweit.«
René Zobel grinst und signalisiert sein Okay mit erhobenem Daumen. Die Story ist sein, daran ist nichts zu deuteln. Inzwischen hat er eine sehr passable Liste von Personen, die er zu den Vollenweiders befragen wird, zunächst einmal natürlich die lieben Nachbarn und Bekannten aus Hürth. Irgendjemand quatscht immer, so wird es auch dieses Mal sein. Doch bevor er auf Interviewtour geht, braucht er noch mehr Background. Ein Besuch im Redaktionsarchiv ist angesagt, auch wenn das nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung ist.
Er trägt sein Tablett zur Geschirrrückgabe und entscheidet sich in Anbetracht des Extra-Desserts für die Treppe, um in den Archivkeller zu gelangen. Das dumpfe Brummen der Klimaanlage begrüßt ihn. Er schaltet das Deckenlicht ein, das trübe wirkt, eine der Neonröhren kriegt die Kurve nicht richtig, flackert und flackert, begleitet von einem nervtötenden Sirren. Willkommen in der Steinzeit! Er sieht sich um. Stahlschränke und Regale, Hängeregistraturen stehen hier dicht an dicht. Früher gab es wohl jemanden, der das Papierarchiv der Redaktion betreute und über dessen Ordnung wachte, aber dieser Job wurde, wie so viele andere in den Medien, schon vor Jahren wegrationalisiert.
René Zobel studiert den Archivplan, den der ehemals zuständige Kollege offenbar mit großer Hingabe angefertigt hat, und macht sich auf den Weg zwischen die übermannshohen Regale. 1986. Das war der Sommer, bevor er eingeschult wurde. Die DDR existierte noch, die Sowjetunion, an ein wiedervereinigtes Deutschland mit einer Mecklenburger Pfarrerstochter als Bundeskanzlerin war nicht zu denken. 1986 – Bingo! Da ist der Schrank schon. Staub wölkt auf, als er die KURIER-Ausgaben vom Juli aus ihrem Schuber zieht. Er hustet. Archivsuche analog – was für ein Mist! Bei ihm zu Hause hat Staub keine Chance, da liegt Laminat, und Papier gibt es nur in kleinstmöglichen Mengen. Zwei Zimmer, Küche, Bad, zentrale Lage, maximal 500 warm und bloß keine Staubfänger wie Vorhänge oder Teppiche, das waren seine Kriterien bei der Wohnungswahl, und das hat er bekommen. Dass sein Heim deshalb direkt über dem Barbarossaplatz liegt, ist ihm egal, auch wenn der nachweislich der lauteste und wohl auch hässlichste Platz in ganz Köln ist, was bei der gründlich vermurksten Nachkriegsarchitektur und Chaosverkehrsplanung der rheinischen Metropole schon etwas heißen will.
Er blättert durch die Zeitungen und niest, seine Augen jucken. Bestimmt sieht er binnen fünf Minuten wie ein rotäugiges Karnickel aus. Es ist schon ein ziemlich abgefahrener Witz, dass ausgerechnet er, der Zeitungsmann und angehende Top-Bestseller-Autor, gegen Staub und ganz besonders gegen Papierstaub allergisch ist. 19. Juli, na also, es geht doch. Der erste Report zum Todeshaus. Er fischt die Zeitung und ihre Folgeausgaben aus dem Schuber und breitet sie eine neben der anderen auf dem dafür vorgesehenen Tisch am Ende der Regalreihen aus. ›Blutbad in Hürthk‹ ›Todeshaus‹. ›Sohn ist flüchtig!‹ ›War es der Sohn?‹. Tatsächlich hatte Rufus Feger persönlich berichtet. René Zobel überfliegt die Artikel des Altmeisters und bewundert einmal mehr dessen Stil. Die meisten Leute glauben, kurze Sätze zu schreiben sei leicht, ja sogar primitiv. Bildzeitungsstil nennen sie das despektierlich. Dabei ist es eine hohe Kunst, die höchste sogar, einen hochkomplexen Sachverhalt prägnant und verständlich darzustellen. Reduktion auf das Wesentliche. Knappe Sätze. Starke Bilder. Die genau richtigen Worte wählen. Oft nicht mehr als fünf, maximal zehn in einem
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