Nichts als Erlösung
Satz. Je leichter und lockerer das beim Lesen wirkt, desto anstrengender war das Schreiben, das ist nun mal so. Aber wenn man sein Handwerk beherrscht wie der große Feger, fressen einem die Leser zum Dank aus der Hand, dann reißt man sie in einen regelrechten Sog, zwingt sie dahin, wo man sie hinhaben will, lässt sie nicht mehr los.
Einen flüchtigen Augenblick lang denkt er an Judith Krieger, die sich immer noch weigert, mit ihm zu sprechen, und so tut, als sei der KURIER eine Art Schmuddelporno, keinen Blick wert. Doch Frau Kommissarin wird ihre Meinung noch ändern, bald sogar, nach all der Ziererei wird sie doch noch mit ihm kooperieren, ja, sie wird ihn sogar darum bitten, sie wird ihm noch dankbar sein für seine Informationen.
1986. Die Urlaubsreisen mit seinen Eltern fallen ihm ein. Zelt, Schlauchboot, Gepäck im Kofferraum des Taunus, vorne die Eltern, auf der Rückbank er und sein nerviger kleiner Bruder. Und dann ab durch die Mitte, immer nachts, die große Fahrt über die Alpen, runter nach Italien. Er sieht noch die riesigen Straßenkarten, mit denen seine Mutter auf dem Beifahrersitz hantierte. Immer falsch gefaltet, immer war die Abzweigung, nach der sie suchte, direkt hinter dem Knick oder gerade durch diesen Knick völlig unleserlich. Einmal waren sie auch liegen geblieben, mitten in der Nacht, irgendwo in den Bergen hinter dem Brenner, in the middle of nowhere. Handys gab’s damals noch nicht, also hatten sie auch nichts vermisst. Sie hatten einfach gewartet, Wurstbrote gefuttert und Hagebuttentee aus der Thermoskanne getrunken, was eigentlich als ihr Frühstück gedacht war. Ein nächtliches Abenteuer. Bis es irgendwann dämmerte und ein Bäuerchen auf einem Trecker angezuckelt kam und sie ins nächste Dorf abschleppte.
War das tatsächlich im Sommer 1986 gewesen oder ein Jahr davor, oder später? Egal, völlig egal. Er zieht die Nase hoch und konzentriert sich wieder auf die Artikel. Zuerst hatte Rufus Feger täglich berichtet: Eine verschwundene Familie. Blut. Keine Leichen. Die Suche nach dem Sohn, die Suche nach den Leichen, die Beerdigung, die Verhaftung des Sohns Jonas V. Ab August wurden die Abstände dann größer und die Reportagen zum Todeshaus kleiner, sie rutschten immer weiter nach hinten im Blatt, wurden von Kurzmeldungen abgelöst. Obwohl, halt, da, am 15. September hatte Feger unter der Überschrift »Jonas V. weiter in U-Haft« die Frage aufgeworfen, ob dieser womöglich unschuldig sei. Feger hatte spekuliert, ob es in der Vergangenheit des Vaters Hans V. nicht vielleicht etwas gäbe, was einen Mörder dazu bewegen könnte, die Familie auszulöschen. Ein historisches Schwarz-Weiß-Foto, das einen jungen Hans V. im Kreise großäugiger Kinder vor einem Fachwerkhaus zeigt, diente zur Illustration. Zobel beugt sich tiefer über das Foto. Haus Frohsinn steht über dem Eingang. ›Hans V. mit Heimkindern in den 60er Jahren‹ lautet die Bildunterschrift. Direkt daneben ist das Interview mit einer Erna H., 69, abgedruckt. Einer ehemaligen Erzieherin aus dem Heim. ›Die Kinder haben ihn geliebt‹, beteuert die. ›Er war wie ein Vater für sie, hat das Heim mit großer Umsicht geleitet‹, blablabla. René Zobel durchblättert weitere Ausgaben. Andere Zeugen aus dieser Ära gab es offenbar nicht. Oder sie hatten alle das Gleiche gesagt, jedenfalls hatte Feger nicht weiter über das Heim berichtet.
Ob diese Erna noch lebt? Vermutlich nicht, und falls doch, dürfte sie mittlerweile wohl senil sein. Aber das Foto ist interessant. Irgendwo hier im Archiv muss es noch das Original dazu geben, zumindest einen Abzug davon, und – so gründlich, wie Rufus Feger immer war – noch weitere Fotos. René Zobel kopiert die Artikel, bringt sie wieder an ihren Platz und macht sich auf in den hinteren Teil, wo die Quellen verwahrt werden. Das wird Hardcore für seine gebeutelten Schleimhäute, das weiß er aus Erfahrung. Er putzt sich die Nase, die davon völlig unbeeindruckt sofort weitertrieft. Oben im Schreibtisch hat er eventuell noch ein Antiallergikum, aber jetzt ist es eh schon zu spät, je schneller er das hier hinter sich bringt, desto besser. Kartons und lose Papiere quellen ihm aus dem 1986er-Schrank entgegen, noch mehr Staub wirbelt auf. Ein paar gammelige Fotos segeln zu Boden. Vergilbte Papiere. Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Er grinst, als er an diesen Journalisten-Leitspruch denkt. Stimmt natürlich, aber im Gegensatz zu diesem alten Krempel hier ist die Zeitung
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