Nichts als Erlösung
ihnen vorbei. Ferien. Urlaub. Selbst nach drei Stunden Flug, in denen sie sich darauf vorbereiten konnte, auf Samos zu landen, wirkt dieses unschuldige Szenario vollkommen irreal.
»Kommissarin Krieger?«
Die Sprecherin ist zierlich, trägt eine dunkelblaue Uniform und schwarze Schnürstiefel und schiebt sich eine spiegelnde Sonnenbrille ins blonde Haar.
»Maria Damianidi.« Sie drückt Judiths Hand mit überraschend festem Griff und lächelt. »Herzlich willkommen. Ich habe Sie gegoogelt, damit ich Sie gleich erkenne.«
»Sie sprechen hervorragend Deutsch.«
»Meine Mutter ist Deutsche. Ich bin in Hamburg zur Schule gegangen. Deshalb hat man beschlossen, dass ich Sie hier auf Samos begleite.«
Maria Damianidi fasst Judith am Arm und führt sie zu einem Land Rover mit aufmontiertem Blaulicht, schwingt sich auf den Fahrersitz und spricht in schnellem Griechisch in ihr Funkgerät, hört zu, fragt nach, runzelt die Stirn.
»Probleme?«, fragt Judith.
»Nur eine Änderung. Wir fahren direkt nach Limnionas.«
»Warum? Ich dachte, Lea Wenzel sei im Krankenhaus in Samos-Stadt.«
»Da war sie auch, ja.« Maria Damianidi gibt Gas und lenkt den Wagen auf eine schmale Straße, weg vom Meer, auf ein Bergmassiv zu.
»Aber?«
»Sie ist dort nicht mehr, sie hat sich entlassen. Sie hat den Ärzten gesagt, sie wollte nach Hause.«
›Wollte‹, Konjunktiv. Oder Vergangenheit. Judith fühlt, wie ihr Körper sich verspannt, wie dieses latente Gefühl von Bedrohung, das sich während des Flugs nach und nach verflüchtigt hatte, wieder nach ihr greift. Das Gefühl, dass der Täter ganz nah ist, zu nah. Dass er sie beobachtet, dass er ein Spiel mit ihr spielt, das sie weder durchschaut noch gewinnen kann.
Maria Damianidi wirft ihr einen Seitenblick zu. »Ein Kollege ist bereits zu Leas Haus gefahren. Sie wird dort bestimmt sehr bald eintreffen.«
»Das heißt, niemand weiß, wo sie jetzt gerade ist.«
Die Polizistin lacht, wird dann schnell wieder ernst, als sie merkt, dass Judith keine Miene verzieht. »Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Hier auf Samos geht man nicht so schnell verloren.«
Keine Sorgen, na klar. Sie ist stundenlang geflogen, um Lea Wenzel zu vernehmen, und kaum ist sie hier, ist diese womöglich wichtigste Zeugin verschwunden. Judiths Handy spielt Queen, auf dem Display erkennt sie die Nummer ihrer Mutter, was die ganze Situation noch weiter ins Absurde treibt. Sie lässt den Anruf auf die Mobilbox leiten, sie braucht diese Nachricht nicht einmal abzuhören, sie weiß auch so, dass ihre Mutter ein weiteres Mal darauf dringt, dass sie am nächsten Freitag nach Frankfurt kommt. Weil es doch der 75. ihres Stiefvaters ist. Weil er doch immer gut zu Judith gewesen ist, sie angenommen hat, ihr seinen Namen gab, sie erzogen hat, unterstützt, ihr das Studium finanziert.
Aus dem Funkgerät quillt erneut Unverständliches. Maria Damianidi antwortet, nickt, zündet sich eine Zigarette an und beginnt mit dem Handy zu telefonieren. Der Tabakrauch macht Judith schwindelig vor Verlangen. Sie dreht den Kopf zum Seitenfenster, weiß nicht, ob sie lachen oder schreien soll. Ist der Täter hier? Ist er Jonas von hier nach Deutschland gefolgt? Hat er nun Lea Wenzel in seine Gewalt gebracht?
Ein paar weiß getünchte Häuser und eine Taverne ziehen an den Autofenstern vorbei, Olivenhaine mit silbrig flirrendem Laub. Dann eine majestätische Kiefer, einsam und windschief, wie in ihrem Traum.
»Ich habe Sie in der Pension meiner Tante einquartiert, direkt am Strand«, sagt Maria Damianidi, als gebe es kein Problem. Und vielleicht stimmt das ja auch, vielleicht sieht sie wirklich Gespenster, vielleicht hatte Lea Wenzel einfach die Nase voll vom Krankenhaus und ist auf dem Heimweg, und es gibt nichts zu fürchten. Sie passieren ein Bergdorf, kurz darauf noch ein zweites, dann gibt die Straße den Blick wieder frei auf das Meer, das nun nicht mehr dunkelblau ist, sondern grauviolett, und der Himmel ist rosa, aber nicht sehr lange, und das ist auch gut so, denkt Judith, sonst würde ich wirklich jeden Sinn für die Realität verlieren.
Es ist schon dunkel, als sie Limnionas erreichen. Wieder krächzt das Funkgerät, und diesmal scheint die Männerstimme aus dem Äther eine gute Nachricht zu überbringen, denn Maria Damianidi lächelt jetzt deutlich entspannter.
»Lea ist in ihrem Haus. Aber sie bittet darum, dass Sie sie erst morgen befragen«, sagt sie zu Judith. »Ich habe gesagt, das ist sicher in Ordnung.«
»Ist
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