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Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Mitnehmen in den Park, alkoholfreies Weizenbier, eine Tüte Gummibärchen und eine Decke. Er lotst Sonja die Treppe runter, ins Auto und wieder raus, als sie am Volksgarten sind. Er führt sie mitten hinein ins pralle Stadtsommerleben, mitten ins Gewimmel leicht bekleideter Menschen, die auf der Wiese herumlümmeln, Bier trinken, grillen, Ball spielen, jonglieren, lachen, lesen, auf Bongos eindreschen oder mit Tretbooten auf dem Volksgartenteich rumkurven. Er fasst Sonja fester, dirigiert sie am knallvollen Biergarten vorbei zu einem einigermaßen ungestörten Plätzchen am Ufer des Teichs und breitet die Decke aus.
    »Los, setz dich hin, häng die Füße ins Wasser.«
    »In diese Brühe?«
    »Es ist nass. Und kühl.« Er taucht die Hand rein und macht ein Werbeonkelgesicht.
    Sie zögert, schnickt dann doch ihre Flip-Flops beiseite.
    Er setzt sich so, dass sie sich an ihn lehnen kann, öffnet die Pizzakartons, reicht ihr ein Stück, merkt auf einmal, wie hungrig er selber ist. Spinat und viel Knoblauch. Sonjas Lieblingspizza. Er schlingt selbst ein Stück herunter, reicht ihr das nächste. Öffnet ein Bier für sie, dann für sich selbst.
    »Du wirst fantastisch sein«, sagt er ihr ins Ohr.
    Sie beißt ein großes Stück von ihrer Pizza ab. Kaut. Dreht sich halb zu ihm herum und mustert ihn.
    »Woher willst du das wissen?«
    »Ich weiß es eben. Du wirst fantastisch sein. Ganz genau richtig für unser Kind.«
    Unser Kind. Der hellblaue Nachttopf mit dem roten Auto fällt ihm ein, den seine Mutter all die Jahre aufgehoben hat. Das Gebrüll seines Vaters, wenn es mit dem Nachttopf nicht klappte, mit dem Schlafen, mit dem Essen, mit dem Mundhalten beim Fernsehen.
    Rund 800000 Kinder wuchsen im Westdeutschland der Nachkriegszeit in Heimen auf. Vielleicht sogar noch mehr. Fast eine Million Kinder und Jugendliche, die niemand wollte, weder ihre Eltern noch die Gesellschaft, und die bis weit in die 60er-Jahre hinein und oft auch noch länger der Willkür ihrer Erzieher ausgeliefert waren, ohne Lobby, ohne Perspektive. Eine Million. Eine ungeheure Zahl. Er hat nichts davon gewusst. Nie davon gehört. Eine Parallelrealität.
    Er erzählt Sonja davon, nachdem sie die Pizza aufgegessen haben. Sie liegt ausgestreckt vor ihm, ihr Kopf auf seinem Oberschenkel. Sie streichelt ihren Bauch, hört ihm zu, fragt die richtigen Dinge. Sie sieht jetzt wieder besser aus, die Farbe ist in ihr Gesicht zurückgekehrt, vielleicht auch die Hoffnung.
    »Du hast mich gerade gerettet, Fredo, weißt du das?«, sagt sie, als er mit seinem Bericht zu Ende ist.
    Er reißt die Gummibärchen-Tüte auf und legt sie auf ihren Bauch. Sie sucht sich systematisch ein paar rote raus, wechselt dann zu weiß, grün und orange. Nur die gelben lässt sie für ihn drin, bloß weil er ihr mal erzählt hat, dass er die schon als Kind am liebsten mochte, egal, wie sehr sein Vater versucht hat, ihm diese ›Marotte‹ abzugewöhnen.
    Er trinkt einen langen Schluck Bier. Es schäumt und kitzelt in seiner Kehle. Er wirft ein paar gelbe Gummibärchen dazu. Süß und herb. Gut.
    »Schwangerenirrsinn«, sagt Sonja und seufzt.
    Sein Hirn macht einen Satz vorwärts. Sieht sie zu dritt hier, das Kind, das jetzt noch ein Flattern unter Sonjas Haut ist, in ihrer Mitte, als Säugling, als Krabbelkind, das sie daran hindern, im Teich zu ertrinken. Als Schulkind. Die glückliche Familie. Kitsch, alles Kitsch, oder etwa nicht?
    Wieder denkt er an Hans Vollenweider. Wie es für ihn gewesen sein muss. Als 15-Jähriger im Krieg, die Mutter verhungert, die Brüder und der Vater bereits gefallen, die Heimatstadt Köln ein Trümmerfeld, in dem Psychowracks ums Überleben kämpften. Ausgebombte und Traumatisierte. Ex-Nazis. Ex-Judenhasser, Ex-Soldaten. Heimatlos, führerlos, alles verloren. Er versucht sich vorzustellen, wie es gewesen sein muss, in dieser Zeit ins Heim eingewiesen zu werden, in dem noch der Geist der Nationalsozialisten regierte: Gehorchen. Parieren. Keine Flausen im Kopf haben. Feldarbeit leisten, in der Schlachterei aushelfen, in der Wäscherei, ohne Ausbildung, ohne Bezahlung, ohne Anerkennung. Verrohung, hatte Elke Schwab gesagt. Gewalt löst Gewalt aus, so ist das eben.
    Er stellt sich denselben Mann ein paar Jahre später vor. Als Gruppenleiter, dann als Heimleiter und Vater. Sieht die düstere Eichenschrankwand in Hürth vor sich. Die blickdichten Gardinen. Er denkt an den Sohn, Jonas, der es dort nicht mehr aushielt und ausbrach. Er denkt an all die namenlosen

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