Nichts als Erlösung
Jungen aus dem Heim, die vielleicht nicht die Kraft hatten, sich zu wehren.
»Wieso schickt er euch die Fotos, was glaubst du?«, fragt Sonja in seine Gedanken.
»Weil er Aufmerksamkeit will.« Manni trinkt sein Bier aus und schiebt die leere Flasche in die Tüte mit den Pizzakartons.
»Für sein Schicksal, meinst du?« Sonja runzelt die Stirn. »Aber warum schickt er euch dann keine Fotos vom Heim?«
»Shit!« Er starrt sie an, greift nach seinem Handy.
Was würdest du tun, nachdem du den Mann, der dein Leben zerstört hat, getötet hast? Wo würdest du ihn begraben? Die Antwort scheint auf einmal sonnenklar: Du würdest ihn dort begraben, wo er dich gequält hat. An dem Ort, den du auch schon vernichtet hast.
***
Unwirklichkeit. Sie sitzt zwischen erwartungsfrohen Urlaubern in einem Ferienflieger. Mitten in einer Ermittlung. Mit Jesuslatschen an den Füßen. Judith bewegt ihre nackten Zehen. Sie konnte nicht widerstehen, hat noch vor dem Einchecken ihre Converse-Chucks gegen die Lederschlappen getauscht. Jesuslatschen, wahrhaftig. Zum letzten Mal hat sie die vor zwei Jahren auf Korfu getragen, in dem ersten und einzigen Urlaub mit Martin. Martin, der sie heiraten wollte und glücklich machen. Aber sie wollte kein Reihenhaus und auch kein Kind, kein Leben mit ihm. Martin war für sie da gewesen, nach Patricks Tod, sie hatte ihn gebraucht, aber sie hatte ihn nicht geliebt. Sie hatte dennoch eine Weile gehofft, dass es anders wäre. Sie trinkt einen Schluck Weißwein, um das labbrige Käsesandwich, das die Stewardessen spendiert haben, runterzuspülen. Weißwein im Dienst und Gedanken an verflossene Liebhaber, zum Wohl, Frau Hauptkommissarin. Judith unterdrückt ein Lächeln und streckt die Beine aus, so gut es geht. Tief unten im diesigen Blau schwimmen winzige Inseln, vielleicht sind sie bewohnt, vielleicht auch nicht, aus dieser Höhe betrachtet, geben sie es nicht preis. Sie sehnt sich auf einmal nach Karl, sehnt sich danach, eine ganz normale Touristin zu sein, die mit ihrem Freund in den Sommerurlaub fliegt, nicht eine Polizistin, deren Aufgabe es ist, eine trauernde, hochschwangere Witwe mit Fragen zu malträtieren. Mit Karl war von Anfang an so viel mehr möglich als mit Martin. Kein Kind, das nicht, das will weder sie noch er, aber ein Leben. Sie trinkt ihren Wein aus und schließt die Augen. Das Meer, das Meer, wann war sie eigentlich zum letzten Mal am Meer?
Sie muss eingeschlafen sein, denn als sie die Augen wieder öffnet, beginnt das Flugzeug bereits zu sinken, und die Stewardessen sammeln die Becher und Sandwichverpackungen ein. Sie presst die Stirn an die Fensterscheibe. Wieder taucht unten eine Insel auf, dunkel gefältelt, wie der Rücken eines Fabeltiers. Licht gleißt darüber, goldenes Abendlicht. Sie stellt ihre Uhr eine Stunde vor, auf die griechische Zeit. Warum ist Jonas Vollenweider ausgerechnet nach Samos gezogen, und warum hat der Täter ihn nicht bis dorthin verfolgt? Will oder kann er nicht reisen? Auch das ist ein Rätsel, eines von vielen. Das Flugzeug sinkt jetzt sehr schnell, dreht eine Schleife über dem Meer, überfliegt Olivenhaine, setzt dann auf dem Boden auf.
Hitze hüllt sie ein, sobald sie das Flugzeug verlässt, eine ganz andere Hitze als die stickige Schwüle, die für die Kölner Sommer so typisch ist. Die Luft ist sehr weich und würzig, und der Wind kommt vom Meer her, das unmittelbar hinter der Landebahn liegt. Judith schultert ihren Rucksack und folgt den Urlaubern zum Flachbau des Flughafengebäudes. Woran hat Jonas Vollenweider gedacht, als er hier vergangene Woche zu seiner letzten Reise aufbrach? Hat er geahnt, dass er mit dem Verkauf seines Elternhauses die alten Dämonen zum Leben erweckt? Vielleicht kann Lea Wenzel diese Frage beantworten, diese und viele andere. Wenn sie ansprechbar ist. Wenn sie bereit ist, zu sprechen, trotz all ihrer Trauer. Wenn sie überhaupt etwas über Jonas’ Vergangenheit weiß.
Judith läuft an den Gepäckbändern vorbei zu dem Ausgang, der für EU-Bürger vorgesehen ist. Niemand kontrolliert ihren Pass, ein gelangweilter Zollbeamter schenkt ihr keine Beachtung. Wie viele Flugzeuge starten und landen hier pro Tag? Selbst wenn sie die Identität des Täters kennen würden, dürfte es schier unmöglich sein, festzustellen, ob er in den letzten 20 Jahren jemals auf diese Insel kam. In der Ankunftshalle stehen lächelnde Reiseleiterinnen mit den Logos diverser Touristikunternehmen Spalier. Judith schüttelt den Kopf, läuft an
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