Nichts als Erlösung
Feger. Und das ist der einstige Starkolumnist selbst, ein – er muss kurz schlucken – zusammengesunkener, zittriger Greis im Rollstuhl, der nicht gerade nach Aftershave duftet. Doch die Augen sind wach und intelligent, auch wenn sie tief in den runzligen Höhlen liegen. René Zobel streckt die Hand aus und dienert, merkt, wie ihm doch tatsächlich die Ehrfurcht in die Stimme kriecht. Er ist nah, ganz nah dran an seinem Idol. Wenn er keinen Fehler macht, wird Feger ihm helfen, das wird sein Durchbruch, nicht nur in der Todeshaus-Geschichte.
»Herr Feger, es bedeutet mir so viel, Sie persönlich kennenzulernen. Ich habe all Ihre Kolumnen und Reportagen gelesen, und zwar nicht nur einmal. Ich bewundere Sie sehr.«
Feger lallt etwas und winkt ab, deutet mit zittriger Hand auf einen Sessel.
»Ich bring dann den Tee«, faucht der Hausdrache und verschwindet, was die Raumatmosphäre augenblicklich verbessert.
Zobel faltet sich in einen Sessel und legt den KURIER mit seiner heutigen Top-Story vor Feger auf den Tisch. SCHÖNE MIRIAM – JETZT SPRICHT IHR FREUND: WIR MUSSTEN UNS HEIMLICH LIEBEN! Schöne Miriam, hatte Judith Krieger gehöhnt. Schön ist wohl Ihr einziges Adjektiv, wenn es um Frauen geht? Nur wenn es zutrifft, hatte er erwidert und sich zu einem Lächeln gezwungen. Aber das hätte er sich ebenso gut für seine Topfpalme aufsparen können, die hätte sein Kompliment vermutlich besser zu würdigen gewusst. Klar, so richtig genial ist dieser Aufmacher nicht. Irgendwas war seltsam mit diesem Interview. Aber deshalb musste die Krieger sich nicht gleich so aufplustern. In seinem bislang leider einzigen Artikel über sie hat er sie schließlich auch als schön bezeichnet, dabei war das nun wirklich geschmeichelt, denn in dem Outfit, das sie offenbar extra für den Interviewtermin mit ihm angelegt hatte – eine konservative getüpfelte Bluse und streng zurückgestecktes Haar –, wirkte sie genau genommen wie eine verkniffene Gouvernante.
Der alte Feger scheint mit dem Studium des Artikels nun fertig zu sein und fördert aus einer Seitentasche an seinem Rollstuhl die Mappe hervor, die Zobel extra für ihn angefertigt und vor zwei Tagen abgegeben hat, um ihn von seinen Qualitäten zu überzeugen.
»Iiih esch«, stößt er hervor und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen.
Nicht schlecht, meint er das? Ein Lob? Offenbar. René Zobel erwidert das Lächeln. »So schwer war das nicht, den Freund von Miriam aufzuspüren und ihm ein Jugendfoto und ein paar nette Worte abzuringen, das ist Routine, Sie wissen doch, wie so was läuft, die Leute zieren sich erst, aber dann hören sie sich doch gern selbst reden …«
Nur dass dieser Miriam-Freund gar nicht so gerne und viel geredet hat, wird ihm schlagartig klar. Sobald es konkret um Miriam ging, war er äußerst zugeknöpft. Als sei er noch längst nicht drüber weg. Und das nach 20 Jahren.
Der Alte betrachtet ihn mit wässrigen Augen. Abwartend? Prüfend? Der Hausdrache bringt den Tee in Porzellan mit Goldrand, schenkt ihnen ein und verschwindet gnädigerweise wieder. René Zobel räuspert sich. Dieser Raum mit den Büchern und dicken Teppichen schluckt sein Zeitgefühl, er kann gar nicht mehr sagen, wie lange er schon bei Feger ist, weiß nicht, wie lange er überhaupt bleiben darf, ist für ein paar absurd anmutende Sekunden nicht einmal sicher, ob er sich überhaupt noch im 21. Jahrhundert befindet. Er lässt ein Stück Kandis in seine Tasse plumpsen und rührt, ruft sich das Ziel seines Besuchs vor Augen: Fegers Einschätzung hören, Fegers Unterlagen von damals zumindest anschauen und, noch besser, mitnehmen dürfen. Aber wenn er den alten Fuchs auf seine Seite ziehen will, darf er nicht rumzaudern, dann braucht er Biss, das ist ihm sonnenklar.
Er platziert den Löffel wieder ordentlich neben der TasSe, setzt sich so aufrecht wie möglich in dem scheußlich weichen Sesselchen zurecht und legt los. Wie er seine Position im KURIER so schnell erreicht hat, wie er den Fall Todeshaus bislang angegangen ist, wie er im Archiv auf die Lücke stieß und Feger deshalb um Hilfe bitten möchte. Dass die ersten Briefe und Mails ehemaliger Heimkinder eintreffen, aber leider nichts Konkretes enthüllen, nur allgemeines Gejammer über die Schlechtigkeit der Welt. Feger lässt ihn reden, reden und reden. Und dann, gerade als er glaubt, es versiebt zu haben, und Feger ihn auflaufen lässt, hebt der Alte die Hand und nuschelt etwas, das wie ›Familie‹ klingt.
René
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