Nichts als Erlösung
knurrt, auch wenn das Szenario vor ihm nicht wirklich appetitlich ist. Zumindest sind die Knochen hier recht sauber und stinken nicht mehr. Er überlegt, ob er noch ein Fisherman’s lutschen soll, lässt es dann aber, auch wenn seine Kehle staubtrocken ist. Die Krieger hat eindeutig das bessere Los gezogen, aber wirklich der Kracher ist ihre Party wohl nicht, denn sie hat ihn schon zweimal angerufen, und nun fiedelt sein Handy wieder los, doch diesmal ist nicht Judith Krieger dran, sondern Sonja, die nicht schlafen kann.
Er klemmt sich das Handy ans Ohr, schlägt mit der freien Hand eine Mücke auf seinem linken Unterarm tot, in flagranti quasi, denn zurück bleibt ein blutiger Fleck.
»Macht das Kind wieder Karate?«
Sonja lacht. »Fühlt sich so an. Es ist jedenfalls eindeutig nachtaktiv. Und du, was machst du? Ich hoffe, du findest nicht noch mehr tote Kinder?«
»Sieht nicht so aus im Moment.«
»Gut.« Sie zögert, holt Luft. »Deine Mutter hat mich heute Nachmittag angerufen.«
»Meine Mutter?«
»Sie will uns Geld geben, sie hat wohl jahrelang gespart, in der Hoffnung auf Enkel.«
»Hast du ihr von der Wohnung erzählt?«
»Hätte ich nicht?«
»Ich frag ja nur.«
Seine Mutter ruft Sonja an. Seine Mutter hat Geld gespart. Weit nach Mitternacht, als die KTU-ler es vorläufig drangeben, hallen diese Worte noch immer in ihm nach, aber auf eine seltsam abstrakte, losgelöste Weise, denn sein Hirn ist von der neuesten Entwicklung im Vollenweider-Fall absorbiert. Nur zwei Tote sind auf der Lichtung im Steiner Wald begraben, jedenfalls an dieser Stelle. Zwei, warum zwei, was hat das zu bedeuten? Haben sie es doch mit einem Familiendrama zu tun statt mit dem Rachefeldzug eines ehemaligen Heimkinds? Aber Böhm wuchs im Kinderheim Frohsinn auf, und er lebt in Darmstadt. Das muss eine Bedeutung haben, selbst wenn Böhm tatsächlich unschuldig ist.
Die Rechtsmediziner nehmen Manni mit nach Frankfurt. Er folgt ihnen durch die Korridore ihres Instituts, zieht sich an einem Automaten eine Cola, sitzt auf einem Hartschalenplastiksitz und wartet, während sie die Schädel röntgen, trinkt seine Cola, schmeckt sie kaum, hört sich das Ergebnis an, nimmt sich dann ein Taxi zu dem Hotel, das die Krieger ihm nennt.
Nach den Stunden im Wald kommt ihm die Lobby des Hotels völlig surreal vor, wie ein Fiebertraum, Leder und Holz und gedämpfte Musik, Personal in Livree und der Duft nach Parfüm und mittendrin die Krieger mit blutroten Lippen und Silbersandalen, die auf ihn zuschwebt, ihn am Arm fasst und in einen Aufzug lotst.
Hans und Johanna Vollenweider haben sie auf der Lichtung gefunden, ganz ohne Zweifel, haben die Rechtsmediziner gesagt. Die Eltern also, nicht die Tochter. Was hat das zu bedeuten? Lebt Miriam noch? Ist sie die Täterin oder Komplizin dieses ominösen Freunds, für dessen Existenz es bislang keinerlei Beweise gibt? Hat Jonas Vollenweider das all die Jahre gewusst und deshalb beharrlich geschwiegen? Doch welches Motiv hätte Miriam gehabt, jetzt auch noch ihren Bruder zu töten? Weil er das Haus verkaufen wollte, war es das?
4. Teil
EISCREME
Ich sehe Dein Bild an und frage mich, wo Du jetzt bist und was Du tust. Ich habe Dir neulich unrecht getan. Du stellst die richtigen Fragen. Du beginnst zu verstehen. Du wolltest mich gar nicht verlassen.
Du fragst Dich, warum ich sie getötet habe? Ich habe sie getötet, weil sie mir das Bild weggenommen haben. Das Bild meiner Mutter. Mein Heiligtum. Sie trug das getupfte Kleid auf dem Foto. Sie lächelte mit den Augen, fast schüchtern. Das Foto war ein bisschen knittrig, weil ich es mal unter der Matratze, dann wieder hinter der Dielenleiste verstecken musste, manchmal so schnell, dass ich unachtsam war. Aber ein paar Kratzer waren immer noch besser als das, was sie sagten, wenn sie mich mit dem Bild erwischten: Deine Mutter kommt dich nicht holen. Deine Mutter hat dich doch schon längst vergessen. Deine Mutter will keinen verstockten Dreckslümmel wie dich, der nachts ins Bett pisst, die braucht ihr Bett doch zum Arbeiten, hahaha. Deine Mutter hat sich zu Tode gehurt.
Lügen waren das. Lügen. Verleumdungen, um mich gefügig zu machen. Heute weiß ich das. Damals schnitt jedes dieser Worte in mein Herz. Aber ich hatte noch das Foto, das sie mir zugesteckt hatte, damit ich sie nicht vergäße. Ich bin endlich volljährig und beantrage jetzt das Sorgerecht für dich, und wenn ich das nächste Mal wieder komme, dann hab ich einen Papa für dich
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