Nichts für Anfänger - Roman
dass einem bei der Geschichte einfach übel werden muss, aber zum anderen wissen wir genau, dass wir gerade eine Grenze überschreiten und uns in unbekannte Gewässer aufmachen und ab jetzt die Chancen gut stehen, dass aus jedem von uns alles Mögliche hervorsprudeln wird.
Und das tut es auch. Und es wird immer mehr. Justin Raf ferty, so ein Oberstreber aus der Abschlussklasse, erzählt, dass er an seinem schönsten Tag die Ergebnisse der Zwischenprüfung bekommen hat, acht Einser und zwei Zweier. Er erzählt, dass sie mit ihm zu Blakes in Oakfield gegangen sind und er sich von allem zwei Portionen bestellen durfte, sogar zwei Eisbecher, und dass sie ein riesiges Familienfoto gemacht haben, mit seinen Onkeln und Tanten und so. Am Anfang reißt er noch Witze und sagt, dass der schlimmste Tag seines Lebens erst dann kommt, wenn die Ergebnisse von der Abschlussprüfung raus sind und er nicht so gut abgeschnitten hat wie bei der Zwischenprüfung. Alle lachen, und wir denken, dass er damit durchkommt, als Vater Jason ihn fragt, ob er sicher ist, dass das alles war. Und dann, wie aus dem Nichts, wie der Einschlag von einem Schmuddelmeteoriten, sagt er im Ernst: Der schlimmste Tag meines Lebens war eigentlich, als ich meiner Cousine die Muschi geleckt habe.
Wir alle sehen einander an, so nach dem Motto: Bidde was?!!! Und du weißt einfach genau, dass die kleinen inklusive oder ganz besonders Pilibeen sich denken: Die Muschi geleckt? Aber Vater Jason bleibt ganz cool und sagt ihm, er soll weitererzählen. Wir bekommen den ganzen Hintergrundbericht, dass er mit seiner Cousine Gemma supereng befreundet ist und er sie am Tag ihrer Konfirmation, nach einer weiteren großen Party im Blakes in ihrem Zimmer eingesperrt und sie gezwungen hat, sich die Muschi lecken zu lassen, weil er es leid war, von den anderen Abschlussklassenmackern ein Streber und eine Jungfrau genannt zu werden. Pilibeens Augen, das sehe ich genau, treten mittlerweile aus ihren Höhlen. Und Justin er zählt immer weiter über die Schuldgefühle und dass Gemma die ganze Zeit geweint hat und dass er ihr nie wieder in die Augen sehen kann, geschweige denn ein Wort mit ihren Eltern wechseln – die vorher seine Lieblingstante und -onkel gewesen sind. Natürlich schluchzt er die ganze Zeit, während er uns das alles erzählt, und tut es noch immer, als Vater Jason sich zu mir dreht und sagt, dass ich nun an der Reihe bin.
Noch bevor ich überhaupt ein Wort sagen kann, spüre ich, dass mir die Beine zittern. In meinem Kopf denke ich, heilige Scheiße, wie zur Hölle soll ich diese ganzen völlig durchgeknallten Storys noch toppen?!! Aber in meinem Herzen weiß ich ganz genau, was ich ihnen erzählen muss. Ich fange mit dem schönsten Tag meines Lebens an und sage ihnen, dass es davon eine ganze Reihe gab und sie sich hauptsächlich darum drehen, dass meine Mam am Tisch den Witz mit der Frau erzählt, die den Busfahrer an ihre Brust lassen will, und meine ganze Familie einen Lachanfall bekommt. Ich werfe einen Blick in die Runde und sehe selbst in dem schwachen Kerzenlicht, dass alle total enttäuscht sind. Mal abgesehen von dem Wort »Brust«, ist das die langweiligste Geschichte des ganzen Morgens. Vater Jason jedoch ist zufrieden und lächelt und macht sogar eine halbe Verbeugung und sagt mir, dass es schön ist, dass ich so offen sage, was in meinem Herzen ist. Und der schlimmste Tag?, fragt er strahlend, in der Hoffnung auf einen richtigen Kracher. Und es ist genau in diesem Moment, dass meine Atmung völlig außer Kontrolle gerät.
Mit Mühe gelingt es mir, wieder Luft zu bekommen, aber es fällt niemandem wirklich auf. Das Zittern ist mittlerweile von meinen Beinen in meine Bauchgegend gewandert. Mei ne Finger fangen wie wild an zu zucken, als würde ich hier und jetzt auf einem unsichtbaren Klavier spielen, und ich will aufspringen und mich wieder hinsetzen, und zwar ungefähr tausend Mal pro Sekunde. Ich bekomme keinen einzigen richtigen Satz zustande, aber ich tue, was ich kann, und merke, wie ich aus irgendeinem Grund mit Helen Macdowell und dem Hockeyball anfange. Meine Worte schießen entweder in kurzen, scharfen, sich wiederholenden Stößen aus mir heraus oder in einem großen unverständlichen Schwall. Ich sage, dass es Helen Macdowell und der Hockeyball waren, die mir alles kaputt gemacht haben. Immer wieder wiederhole ich vier Worte: Es war der Hockeyball, völlig irre, bestimmt eine Minute lang, bis Vater Jason fragt, ob alles in Ordnung ist.
Weitere Kostenlose Bücher