Nichts für Anfänger - Roman
wird von seiner Selbstsucht getrieben, von seinem Hunger, von dem animalischen Zwang, sich den eigenen Bauch vollzuschlagen. Er nickt mir kurz zu, als wolle er sagen: Das hast du davon!
So geht es die ganze Lesung, hin und her wie ein Tischtennisball. Ich werde als selbstsüchtiger Sohn immer besser, irgendwann habe ich sogar den richtigen Akzent, ich klinge wie der arabische Typ, der in Luigi’s Kebab Shop auf der Ranelagh Road arbeitet und »schass Asch-loch« statt »scheiß Arschloch« sagt. Und O’Culigeen ist stocksauer und etwas durchgeknallt und erklärt alles so, dass das Publikum seine Lektion lernt und ich mich gleichzeitig schlecht fühle, weil ich eine Freundin habe. Beim letzten Vers jedoch beschließt O’Culigeen, dieser alte Vollpfosten, dass das jetzt Strafe genug war, und legt einen butterweichen Übergang zur Rolle des großen Vergebers hin. Er kommt zu der Stelle, an der dem ältesten Sohn, ebenfalls gesprochen von O’Culigeen, der Kragen platzt und er einfach nicht glauben kann, dass sein Vater den kleinen Nichtsnutz mit einem Festmahl aus fetten Kälbern und Alk und einem Bronski-Best-of empfängt.
Hier legt O’Culigeen eine dramatische Pause ein und kichert leise in sich hinein. Eine Art In-sich-hinein-Grinsen. Er weiß etwas, was wir nicht wissen. Dann wendet er sich an das Publikum, als wären die Zuschauer der ältere Sohn, und dann, ganz langsam, noch während er spricht, beginnt er seinen Gang quer über die Bühne, Val-Doonican-Style, auf mich zu.
»Mein Sohn«, sagt er ans Publikum gewandt, das von seiner Show sichtlich angetan ist und diese Art mobile Predigt zum ersten Mal bewundern darf – zumal während einer Lesung. »Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und gutes Muts sein, denn …«
Er erreicht mein Pult, legt mir seine Hand auf die Schulter und lässt mich rauf in seine wilden, roten Augen blicken, der widerliche alte Spinner, in denen echte Tränen glitzern. »Dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden …« Er macht noch eine Pause, und man könnte meinen, er würde seine ganzen angestauten Emotionen gleich auf den Boden kotzen. Er versucht gar nicht mehr, sie zu überspielen, ganz im Gegenteil, jetzt drückt er erst richtig auf die Tube, er schließt die Augen und hebt den Kopf gen Himmel und lässt seinen Tränen freien Lauf. Ein Geniestreich. Ein paar von den alten Knackern in der ersten Reihe haben vor lauter Mitgefühl plötzlich auch jede Menge Pipi in den Augen. Er hat die gesamte Gemeinde fest im Griff. »Er war verloren«, macht er weiter, und diesmal breitet er die Arme aus, ganz weit, als würde er darauf warten, dass ich hineinsinke. »Und ist wieder gefunden!«
Er steht mit tränenden, aufgequollenen Augen und weit auseinandergerissenen Armen da und sieht aus wie der traurige Sack, der er nun einmal ist, und wartet nur auf die erlösende Umarmung. Ich kann fühlen, wie mich die ganze Menge innerlich anfeuert, und zu diesem Zeitpunkt bin ich schon so weit jenseits von so etwas wie Protest, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als mich diesem riesigen Ekelpaket an seine ekelhafte Brust zu schmeißen. Er umschließt mich fest mit seinen Armen, und die gesamte Gemeinde, alle fünfundsechzig Reihen plus Stehplätze ganz hinten, bricht in spontane Beifallsstürme aus.
Die Umarmung dauert eine Ewigkeit. Mein Gesicht wird zerdrückt und steckt komplett in seiner Achselhöhle, lediglich mein linkes Auge guckt einmal lange genug heraus, um die Gesichter der zufriedenen Menge zu überfliegen. Sie sind wie in Ekstase, die ganzen alten Klappergestelle in der ersten Reihe donnern immer weiter und zerlegen beim Klatschen ihre arthritischen Pranken in ihre Einzelteile. In mir drin kommt mir diese Sache irgendwie wie der verrückteste, seltsamste Witz meines gesamten Lebens vor, ich lache über das alles in mich hinein, wie übel das alles ist, als mein schweifender Augapfel plötzlich an einer einzelnen einsamen Gläubigen hängenbleibt, die leichenstarr zwischen den Omis sitzt, einen knatschroten Mantel, schwarze Lederstiefel und aufgehellte Haare trägt und leicht angewidert dreinschaut. Ich fange schon an, innerlich zu wettern: Was hat die denn für ein Problem? Hat die den Anfang verpasst?, als ich sie genau anvisiere, diesmal auch mein zweites Auge aus O’Culigeens Achselhöhle kriege und sie zum ersten Mal richtig erkenne. Da sitzt Tante Grace aus England, und sie starrt mich
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