Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)
mehr als 3000 Bewohner eingebüßt. Seltsam, oder?
Weil auch im Nordosten Hessens der Ureinwohner-Exodus nicht versiegen mag, wird hier mit der A44 eine der teuersten Autobahnen der deutschen Geschichte gebaut. Könnte ja sein, dass schon Dutzende DAX-Unternehmen ihre Firmenzentralen nach Eschwege verlegt hätten, wenn es nur früher eine Autobahn dort gegeben hätte. Das untere Werratal wäre vielleicht schon das Silicon Valley Deutschlands, möglicherweise der Think Tank ganz Mitteleuropas. Aber ohne Autobahn kann das ja nichts werden. Ich bin ja ziemlich sicher, dass das auch mit Autobahn nichts wird, aber wie so oft hat meine unerhebliche Einzelmeinung kein Gehör gefunden.
Andererseits: Gäbe es keine umstrittenen Neubauprojekte, blieben uns weite Teile der heimischen Fauna unbekannt. Legendär ist in diesem Zusammenhang die »Kleine Hufeisennase«, die Fledermausart, die fast den Bau der Waldschlösschenbrücke in Dresden verhindert hätte. In Nordosthessen leben im Baugebiet der A44 rund 5000 Kammmolche, deretwegen man einen Teil der Autobahn untertunnelt hat. Die Zusatzkosten dadurch belaufen sich auf rund fünfzig Millionen Euro, also etwa 10000 Euro je Molch.
Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein: Wäre es nicht hübsch, auch in Deutschland den Autobahnen Namen zu geben? In Frankreich tragen die längeren Strecken so wohlklingende Namen wie »Autoroute du Soleil«, »L’Européenne« oder »Autoroutes des Titans«. Auch in Italien und Österreich wird neben einer schnöden Nummer eine romantisierende Bezeichnung vergeben. Ich plädiere dafür, auch in Deutschland so zu verfahren, allerdings sollten die Fernstraßen in verschiedene Abschnitte gegliedert werden. Nehmen wir mal unsere längste, die A7, als Beispiel:
Abschnitt Hamburg–Flensburg: »Autobahn der Sylter SUV-Köppe«
Abschnitt Hamburg–Hannover: »Autobahn des unendlichen Waldes«
Abschnitt Hannover–Göttingen: »Autobahn des verweigerten Ausbaus«
Abschnitt Göttingen–Fulda: »Autobahn der nimmerendenden Kurven«
Abschnitt Fulda–Würzburg: »Autobahn des ewigen Schneefalls«
Abschnitt Würzburg–Ulm: »Autobahn der fränkischen Tristesse«
Abschnitt Ulm–Kempten: »Autobahn der unterallgäuer Tristesse«
Abschnitt Kempten–Füssen: »Guck-mal-rechts-die-schönen-Berge-Autobahn«.
Schon jetzt sorgen allerdings Raststätten an unseren bisher namenlosen Autobahnen für Abwechslung. Früher dominierte bei der Fernstraßengastronomie ein langgezogener, flacher Bau, in dem sich zuvorderst die Kassenräume der überteuerten Tankstation befanden, dann folgte ein erbärmlicher Toilettentrakt, bevor schließlich am Ende das »Restaurant« folgte. Links neben dem Eingang zwei Spielautomaten, rechts eine lange Theke, an der kühle Speisen aus beschlagenen Vitrinen entnommen werden konnten und warme Speisen von beschürzten Kochsklavinnen gereicht wurden. Im ganzen Raum hing ein Duft, der nur entstehen kann, wenn zwanzig Jahre lang täglich frittiert und Reval geraucht wird.
Heute sind die Autobahngasthöfe nicht nur rauchfrei, sondern im Vergleich zu früher auch wahre Tempelanlagen. Hell und freundlich empfangen sie den Reisenden und bieten Früchte und Gemüse in allen Farben des Regenbogens feil. Oft versteckt sich in einer Nische noch eine der einschlägig bekannten Hamburgerbratereien, in seltenen Einzelfällen sogar ein Fischbrötchenversorger. Und das Schönste: Auf den Schildern fünf Kilometer, einen Kilometer und 500 Meter vor der Raststation wird sogar in einem seltenen Anflug deutscher Serviceorientiertheit darauf hingewiesen, welcherlei Art von Kulinarik hinter der Ausfahrt denn folgt. Etwas überzogen ist vielleicht, dass auf einem Gros dieser Hinweistafeln auch erwähnt wird, welche Kaffeesorte im Ausschank befindlich ist. Können Sie sich vorstellen, dass es einen derartigen Dialog im Auto schon mal gab:
»Sieh nur, Schatz, der Rasthof Göttingen-Ost. Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?«
»Bist du wahnsinnig, Weib? Hier schenken sie nur Kaffee von Lavazza aus. Lass uns bis Harz-Ost weiterfahren, da gibt es die herrlichen Kaffeespezialitäten von Segafredo.«
Nein? Gab’s noch nie? Warum steht’s dann dran? Fast genauso teuer wie jedweder Kaffee ist es mittlerweile ja auch, ihn »wegzubringen«. Denn die Drehkreuz-Toilettenmafia hat Deutschlands Fernreiserouten fest im Würgegriff. Schlecht ist die Idee ja nicht, gegen Geld Hygiene anzubieten. Und die Anlagen mit ihren transparenten, blauen Glasbausteinen sind
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