Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
neue Drohungen in meine Richtung zu brüllen. Ich verstand nicht jedes Wort, aber das war gar nicht nötig. Ich verstand auch so, was er meinte.
»Okay, okay! Sie sehen mich gleich.« Meine Stimme hallte durchs Halbdunkel.
»Halt! Erst Ihre Waffe auf den Gang werfen! Los,
los!«
Dann hörte ich, wie er Kelly anbrüllte: »Halt’s Maul!
Halt endlich die Klappe!«
Ich verließ das Büro und blieb kurz vor der
Einmündung des anderen Korridors stehen. Ich schob meine Pistole mit einem Fuß auf den Hauptflur hinaus.
»Hände auf den Kopf und langsam auf den Korridor
raustreten. Bloß keine Tricks, sonst ist die Kleine tot –
haben Sie verstanden?«
Die Stimme klang beherrscht; sie klang nicht wie die eines Verrückten.
317
»Gut, ich komme mit den Händen auf dem Kopf raus«, stimmte ich zu. »Wann soll ich kommen?«
»Jetzt, Arschloch!«
Kellys Schreie waren selbst durch die Glastür hindurch ohrenbetäubend laut.
Ich setzte mich in Bewegung. Vier kurze Schritte
brachten mich mitten in die Einmündung des
Hauptkorridors. Ich wußte, daß ich die beiden durch die Glastür hätte sehen können, wenn ich meinen Kopf nach links gedreht hätte, aber dafür war es noch zu früh. Ich wollte keinen vorzeitigen Blickkontakt, der eine
Überreaktion auslösen konnte.
»Halt, so stehenbleiben, Arschloch!«
Ich blieb stehen. Kellys Schreie wurden leiser und gingen in ein Wimmern über. Ich stand schweigend da, ohne den Kopf zu drehen.
In Filmen wird immer gezeigt, wie der Held der Geisel gut zuredet. Im richtigen Leben läuft die Sache anders ab: Man hält einfach den Mund und tut, was einem befohlen wird.
»Nach links drehen«, forderte er mich auf.
Jetzt konnte ich die beiden im Halbdunkel sehen. Kelly kehrte mir den Rücken zu, während er sie mit einer zwischen ihre Schultern gedrückten Waffe auf mich zuschleifte. Er stieß die Glastür mit dem Fuß auf und kam in den beleuchteten Korridor heraus.
Sobald ich ihn sah, hörte mein Herz zu jagen auf und hämmerte langsam weiter. Ich hatte das Gefühl, auf meinen Schultern liege plötzlich eine zentnerschwere Last.
318
Der Mann war Morgan McGear.
In einem dunkelblauen Zweireiher mit weißem Hemd
und Krawatte wirkte er sehr elegant; sogar seine Schuhe sahen teuer aus. Seine Aufmachung unterschied sich erheblich von der in der Falls Road üblichen Uniform aus Jeans, Bomberjacke und Sportschuhen. Ich konnte nicht genau sehen, mit welcher Waffe er Kelly bedrohte; jedenfalls war es irgendeine Pistole.
Er beobachtete mich und versuchte mich
einzuschätzen. Was tat ich hier in Begleitung eines kleinen Mädchens? Er wußte, daß er ganz Herr der Lage war, daß wir ihm hilflos ausgeliefert waren. Er hielt Kelly mit der linken Hand an den Haaren gepackt – nur schade, daß ich sie ihr nicht noch kürzer geschnitten hatte
–, während er die Mündung seiner Waffe gegen ihren Hals preßte. Das war keine leere Drohung; McGear war ohne weiteres imstande, sie zu erschießen.
Kein Wunder, daß die arme Kleine vor Angst
offensichtlich hysterisch war.
»Herkommen, aber langsam!« befahl er mir laut. »Los, los, wird’s bald? Mach bloß keine Dummheiten,
Scheißkerl!«
Die kahlen Korridorwände schienen jedes Geräusch
zehnfach verstärkt zurückzuwerfen. McGear brüllte mich mit Schaum vor dem Mund an, und Kelly begann wieder zu kreischen. Das ganze Gebäude hallte von diesem Lärm wider.
Ich gehorchte und ging langsam auf ihn zu. Als ich näherkam, versuchte ich, Kellys Blick auf mich zu lenken, um sie irgendwie zu beruhigen, aber das klappte 319
nicht. Sie weinte hemmungslos weiter, und ihr
tränennasses Gesicht war rot und geschwollen. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, ihre Jeans richtig zuzumachen.
Er ließ mich bis auf etwa drei Meter an sich
herankommen. Als ich ihm jetzt in die Augen sah, merkte ich, daß er sich seiner Machtposition bewußt, aber trotzdem nervös war. Seine Stimme mochte selbstsicher klingen, aber sein Blick verriet, wie ihm wirklich zumute war. Falls er den Auftrag hatte, uns zu liquidieren, mußte er jetzt handeln. Mein Blick forderte ihn auf, diese Sache hinter sich zu bringen. Es gibt Situationen, in denen man
– nachdem Plan A, B und C fehlgeschlagen sind –
akzeptieren muß, daß man in der Scheiße sitzt.
»Halt!« blaffte er. Der Widerhall im Korridor schien seinen drohenden Tonfall noch zu verstärken.
Ich starrte weiter Kelly an, um ihr durch meinen Blick zu sagen: »Alles okay, alles in Ordnung. Du hast um
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