Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
erneut durch, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. Ich konnte nur hoffen, durch Zufall auf irgend etwas zu stoßen, das mir bekannt vorkam.
Wup! Ein Dialogfeld zeigte an, daß die Schnüffler-Software neue Anweisungen brauchte. Sie hatte ein weiteres Kennwort ermittelt und fragte nun, ob ich fortfahren wollte.
Ich drückte die Taste J.
Die Maschinen surrten weiter. Ich sah wieder zu Kelly hinüber. Sie stand noch bei den Photos, spielte jetzt aber anscheinend ein Spiel mit einem imaginären
Spielgefährten. Genau wie ihr Dad … auch bei der Arbeit in Gedanken ständig woanders.
»Kommst du bitte mit, Kelly? Falls dieser Computer wieder etwas von mir wissen will, sehe ich seine Frage vielleicht nicht – paßt du bitte für mich auf?«
»Okay.« Der neue Job war offenbar nicht so
aufregend, wie sie gehofft hatte.
Als Kelly mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf
dem Boden hockte, sah sie zur mir auf und sagte: »Nick, ich muß mal.«
»Okay, Augenblick, ich bin fast fertig.« Ein paar Minuten würde sie noch durchhalten können. »Gleich kannst du auf die Toilette.«
Wup! Ich drückte die Taste J.
»Nick, ich muß wirklich«, sagte Kelly. »Ganz
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dringend!«
Was sagte man in diesem Fall zu einer Siebenjährigen?
Zuletzt fragte ich sie: »Mußt du groß oder klein?«
Sie starrte mich verständnislos an. Was sollte ich machen? Um sich nicht durch das Rauschen der
Wasserspülung zu verraten, vermied man bei Einsätzen dieser Art normalerweise jegliche WC-Benutzung.
Deshalb hatte ich die Orangensaftflasche mitgebracht, um hineinpinkeln zu können – und eine Schrumpffolie für alles andere. Aber ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie das bei Kelly funktionieren sollte.
»Ich muß aber, ich muß aber!« drängte Kelly. Sie
rutschte unruhig herum und schlug die Beine
übereinander. Dann sprang sie auf und fing an, um mich herumzutanzen.
»Okay, wir gehen«, entschied ich. »Los, komm mit!«
Ich faßte sie an der Hand. Nachdem ich die Türstopper entfernt hatte, öffnete ich die äußere Bürotür einen Spalt und sah in den Korridor hinaus.
Wir gingen durch das Großraumbüro, die zweiflüglige Glastür und den zur Feuertreppe führenden Korridor. Wir betraten die Toilette, und ich machte Licht. Die arme Kleine hatte es wirklich verdammt eilig.
Hier vergeudete ich kostbare Zeit. Ich konnte nicht beurteilen, wie lange sie brauchen würde, und mußte dringend an den Computer zurück. »Du bleibst hier, wenn du fertig bist, okay?« sagte ich von der Tür zum Korridor. »Ich muß nur schnell nach dem Computer
sehen. Aber ich komme gleich wieder und hole dich ab.«
In diesem Augenblick war es ihr egal, wohin ich ging 315
und was ich tat. Sie war zu sehr mit sich selbst
beschäftigt.
Wup! Ich hastete lautlos den Korridor entlang und beeilte mich, an den Computer zurückzukommen. Dann drückte ich die Taste J.
In diesem Augenblick hörte ich einen gellenden
Schrei.
Ich zog instinktiv meine Pistole, entsicherte sie mit einem Daumendruck und blieb an die Wand neben der Tür gepreßt stehen.
Ich spürte mein Herz jagen und hatte das vertraute Gefühl, sekundenschnell in kalten Schweiß gebadet zu sein. Mein Körper machte sich zum Kampf oder zur
Flucht bereit. Der Schrei war aus dem Bereich der Feuertreppe gekommen, die mein einziger Fluchtweg war. Also würde ich vermutlich kämpfen müssen.
25
Mein Herz hämmerte wie rasend, als wolle es meinen Brustkorb sprengen. Ich wußte längst, daß Angst etwas Gutes sein kann. Wer keine hat, lügt – oder ist geistig labil. Jeder von uns hat Angst, aber als Profi setzt man Ausbildung, Erfahrung und Wissen ein, um diese
Empfindung zu blockieren und sogar zur Lösung des Problems zu nutzen.
Ich war noch dabei, mir einen Aktionsplan
zurechtzulegen, als ich einen längeren, erbärmlicheren Schrei hörte: »Nick! Hilf mir!« Ihr Hilferuf traf mich 316
mitten ins Herz. Vor meinem inneren Auge erschienen Bilder, wie ich sie in ihrem Versteck zusammengekauert gefunden, ihr die Haare gebürstet und mit ihr das dumme Videofilmspiel gespielt hatte …
Ich war jetzt an der äußeren Tür zum Korridor.
Dann hörte ich eine Männerstimme rufen: »Ich hab’
sie! Ich bring sie um! Denken Sie gut darüber nach.
Zwingen Sie mich nicht dazu, es zu tun!«
Das war keine amerikanische Stimme. Trotzdem
erkannte ich sofort, woher dieser Mann stammte: West-Belfast.
Er schien jetzt mit ihr in dem Großraumbüro zu sein.
Während sie weiterkreischte, fing er an,
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