Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
werden.
Noch eine halbe Stunde, bis wir zum Einchecken
gehen konnten. Aber vorher hatte ich noch etwas zu erledigen.
»Kelly, wir müssen noch mal auf die Toilette.«
»Ich muß aber nicht.«
»Ich will mich dort verkleiden. Komm, ich zeig’s dir.«
Wir verschwanden in einer der Behindertentoiletten im 495
Abflugbereich, und ich schloß die Tür hinter uns. Als erstes holte ich Mrs. Sandborns Lesebrille heraus. Ihr dünner Goldrahmen enthielt Gläser von der Dicke des Bodens einer Colaflasche. Ich probierte sie auf. Die Brillenfassung war etwas klein, aber sie sah dennoch passabel aus. Ich drehte mich schielend nach Kelly um.
Anschließend hatte ich Mühe, ihren Lachanfall zu
beenden.
Dann riß ich die Packung Schmerztabletten auf. »Ich nehme jetzt ein paar dieser Tabletten ein, von denen mir schlecht wird. Aber das hat seinen Grund, okay?«
Sie wußte nicht recht, was sie davon halten sollte.
»Oh, okay, wenn du meinst …«
Ich schluckte sechs Kapseln und wartete. Erst kamen Hitzewallungen, dann brach mir der kalte Schweiß aus.
Ich hob eine Hand, um zu signalisieren, daß alles in Ordnung war, während ich mich in die Kloschüssel
übergeben mußte.
Kelly verfolgte erstaunt, wie ich mir im Waschbecken kaltes Wasser übers Gesicht laufen ließ. Ich begutachtete mich im Spiegel. Wie ich gehofft hatte, sah ich so blaß und krank aus, wie ich mich fühlte. Vorsichtshalber schluckte ich noch zwei Kapseln.
Vor der langen Reihe von Abfertigungsschaltern warteten nur wenige Fluggäste, und bei Virgin Atlantic war lediglich ein Schalter besetzt. Die Hosteß schrieb irgend etwas und hielt den Kopf gesenkt, als wir herankamen.
Sie war eine schwarze Schönheit, Mitte Zwanzig, die ihre üppige Mähne zu einem Nackenknoten gebändigt trug.
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»Hallo, mein Name ist Sandborn.« Das Kodein machte meine Stimme rauher und tiefer. »Bei Ihnen müßten zwei Tickets für mich liegen.« Ich bemühte mich, zerstreut und schusselig zu wirken. »Mein Schwager hat sie doch hoffentlich für mich gebucht?« Ich warf einen
hoffnungsvollen Blick gen Himmel.
»Haben Sie eine Bestellnummer, Sir?«
»Tut mir leid, er hat mir keine gesagt. Einfach nur Sandborn.«
Sie tippte den Namen ein und sagte: »Ja, das stimmt, Mr. Sandborn, zwei Tickets für Sie und Louise. Wie viele Gepäckstücke geben Sie auf?«
Ich trug den Laptop über der Schulter und die
Reisetasche in der Hand. Ich zögerte unschlüssig, als überlege ich, ob ich den Laptop bis zum Abflug noch brauchen würde. »Nur diese Tasche hier«, sagte ich und stellte sie auf die Waage. Sie wog nicht viel, aber das große schwarze Tuch füllte sie einigermaßen gut aus.
»Darf ich bitte Ihren Paß sehen?«
Ich tastete alle meine Taschen ab – scheinbar jedoch ohne Erfolg. In Wirklichkeit wollte ich Sandborns Reisepaß nicht sofort vorlegen. »Hören Sie, ich weiß, daß wir Glück gehabt haben, daß wir überhaupt Plätze
bekommen haben, aber könnten Sie freundlicherweise dafür sorgen, daß wir zusammensitzen?« Ich beugte mich etwas nach vorn und fügte halb flüsternd hinzu: »Louise hat schrecklich Flugangst, wissen Sie.«
Kelly und ich wechselten einen Blick. »Alles okay, Baby, alles okay.« Ich senkte meine Stimme nochmals.
»Wir sind in einer sehr traurigen Familiensache
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unterwegs, wissen Sie.«
Nach einem hastigen Blick zu Kelly hinunter erklärte ich der Hosteß mit schmerzlicher Miene: »Wissen Sie, ihre Großmutter ist …« Aber ich brachte den Satz nicht zu Ende, als sei der Rest zu schrecklich für die Ohren eines kleinen Mädchens »Ich sehe zu, was sich tun läßt, Sir.«
Ihre Finger flogen so rasend schnell über die
Computertastatur, daß es aussah, als bluffe sie nur. Ich legte meinen Reisepaß auf den Schalter. Die Hosteß sah auf und lächelte. »Kein Problem, Mr. Sandborn.«
»Wunderbar!« Trotzdem wollte ich dieses Gespräch
fortführen. »Glauben Sie, daß wir eine Ihrer Lounges benutzen können? Nach meiner Chemotherapie ermüde ich sehr leicht. Wir sind den ganzen Tag herumgelaufen, und ich fühle mich nicht besonders gut. Wissen Sie, ich brauche nur irgendwo anzustoßen – schon habe ich eine blutende Platzwunde.«
Sie betrachtete meine Narben und meinen blassen
Teint und nickte verständnisvoll. »Meine Mutter hat eine Chemotherapie wegen Leberkrebs machen müssen«,
sagte sie dann. »Zum Glück nach all den Schmerzen, die sie durchlitten hat, sehr erfolgreich.«
Ich bedankte mich für ihr Mitgefühl und
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