Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
war, daß ich abholberechtigt war, erschien Kelly einige Minuten später, begleitet von einer Betreuerin.
Ich machte mich daran, ihr die Schuhe anzuziehen.
»Hi, Josie, wie hat’s dir gefallen?«
Sie war sauer, weil ich sie mitten aus einem Film herausgeholt hatte. Das erschien mir als gutes Zeichen; es bewies, daß Kelly ihren Schock zu überwinden begann.
Für mich war es eine Erleichterung gewesen, sie eine Zeitlang nicht bei mir zu haben, aber jetzt freute ich mich darüber, sie wiederzuhaben. Ich wußte nicht recht, wie ich das deuten sollte.
Wir nahmen ein Taxi, stiegen aber etwa vier
Straßenblocks vor dem Motel aus und gingen zu Fuß weiter, um diesen einzigen sicheren Bereich nicht zu gefährden.
Ich öffnete die Zimmertür. Der Fernseher lief noch und erzählte uns von den Vorzügen der Automarke Nissan.
Ich machte Licht, forderte Kelly auf, vorläufig auf dem Balkon zu bleiben, und sah mich im Zimmer um.
Die Betten waren nicht gemacht, und die noch immer zugezogenen Vorhänge ließen darauf schließen, daß das Zimmermädchen sich an das Schild Bitte nicht stören an der Tür gehalten hatte. Natürlich war ihr das scheißegal gewesen – sie hatte ein Zimmer weniger sauberzumachen 201
und bekam trotzdem denselben Lohn.
Viel bedeutsamer war, daß sich an der von mir
umgeschlagenen Bettdecke nichts verändert hatte. Hätte ich von der Tür aus gesehen, daß sie jetzt anders lag, hätte ich sehr rasch entscheiden müssen, ob es nicht besser war, einfach davonzulaufen.
Wir gingen hinein. Ich stützte mich auf den Fernseher, um einen Blick hinter die Kommode zu werfen. Das
Zündholz steckte noch zwischen Wand und Möbelstück; sein Kopf bedeckte weiter den Kugelschreiberpunkt.
Selbst wenn jemand gemerkt hätte, daß das Streichholz heruntergefallen war, war es äußerst unwahrscheinlich, daß es an genau diese Stelle zurückgesteckt worden war.
Bisher sah alles gut aus.
»Was machst du, Nick?«
»Ich sehe bloß nach, ob der Stecker richtig festsitzt.
Mir ist’s vorgekommen, als würde er gleich rausfallen.«
Sie äußerte sich nicht dazu, sondern starrte mich nur an, als zweifle sie an meinem Geisteszustand. Ich kniete nieder, um die Schublade zu kontrollieren.
»Kann ich dir helfen, Nick?«
»Ich will nur feststellen, warum der Fernseher so blechern klingt.«
Sie setzte sich aufs Bett und fing an, eine Tüte Oreos zu futtern. Dieses Mädchen hatte wirklich einen
gesegneten Appetit.
Die niedrige Kommode hatte drei Schubladen, und ich hatte die Büroklammer vorn links in den Spalt der mittleren Schublade gesteckt. Ich holte die Tischlampe herunter, schaltete, sie ein und versuchte, das metallische 202
Glitzern der Büroklammer zu erkennen. Als ich es sah, wußte ich, daß die Schublade nicht geöffnet worden war.
Als nächstes kümmerte ich mich um Kelly – ich zog ihr den Mantel aus, steckte ihre Schuhe in die Taschen und hängte ihn an die Tür. Danach machte ich ihr Bett sauber, sammelte alle leeren Packungen ein und wischte die Krümel auf den Fußboden.
»Bist du hungrig?« fragte ich.
Kelly betrachtete ihre halbleere Packung Oreos. »Ich weiß nicht recht. Glaubst du, daß ich hungrig bin?«
»Todsicher. Ich gehe noch mal los und hole uns was zu essen. Du bleibst hier, und ich lasse dich länger aufbleiben. Aber das darfst du nicht weitererzählen, das muß unser kleines Geheimnis bleiben!«
Sie lachte. »Keine Angst, ich sage nichts!«
Ich merkte, daß ich ebenfalls Hunger hatte. Mein
Baguette im SubZone hatte Pat verschlungen.
»Du weißt, was du zu tun hast, nicht wahr?« Ich
wiederholte es sicherheitshalber. »Ich hänge das Schild Bitte nicht stören an die Tür, und du machst keinem Menschen auf. Hast du verstanden?«
»Todsicher.«
Ich starrte sie an. »Willst du mich nachäffen?«
»Todsicher.«
Auf den Straßen war es ruhiger geworden, und der Regen hatte nachgelassen. Ich kaufte jede Menge Klamotten für uns beide – Pullover, Jacken, Mäntel, Jeans, Blusen und Hemden –, mit denen wir mindestens zweimal unser
Aussehen verändern konnten.
203
Dann ging ich zur Burger-Bar hinüber. Während ich dort anstand, überlegte ich mir, wie verrückt das alles war. Gerade war ich noch zur Einsatzbesprechung in Vauxhall gewesen; im nächsten Augenblick versuchte ich schon, mich daran zu erinnern, welche
Geschmacksrichtung eine Siebenjährige bei Milchshakes bevorzugte. Ich fragte mich, ob die beiden Blusen, die ich für sie gekauft hatte, ihr gefallen
Weitere Kostenlose Bücher