Nick Stone - 02 - Doppeltes Spiel
siegen und den Sieg protzig auszukosten. Große Waldgrundstücke wurden gerodet, um Platz für »Villenkolonien« zu schaffen, in denen der Mittelstand wohnen würde, den der neue Goldrausch mit seinen High-Tech-Jobs anlockte. Und an jeder
Straßenkreuzung wiesen von Immobilienmaklern aufgestellte Hinweisschilder den Weg zu weiteren Neubaugebieten, in denen Parzellen spottbillig zu haben waren.
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Ich folgte der Raven Ridge tiefer in den Wald hinein. Das Neue trat allmählich zurück, bis wieder das Alte vorherrschte: halb verfallene Hütten auf Grundstücken, auf denen
Autowracks statt Gartenmöbeln standen, und
heruntergekommene Läden in Bruchbuden aus unverputzten Hohlblocksteinen, an denen verwitterte Schilder für Bier und Angelköder warben. Ich fuhr an alten Mobilheimen vorbei, die aussahen, als seien sie einfach zwanzig bis dreißig Meter von der Straße entfernt abgestellt worden – ohne befestigte Zufahrt, nur durch einen Trampelpfad erschlossen, ohne Zaun als Grundstücksbegrenzung, nur mit Wellblechplatten umlegt, damit man halbwegs trockenen Fußes um den Wagen gehen konnte. Draußen hing Wäsche an der Leine und wurde in der schwülheißen Luft noch feuchter. Drinnen waren vermutlich die Stars der Ricki Lake oder Jerry Springer Show zu Gast. Der Teufel mochte wissen, wie ihre Zukunft aussehen würde, aber eines stand für mich fest: In ein bis zwei Jahren würden auch hier Villenkolonien entstehen.
Die einzigen Gebäude, die nicht verfielen oder kurz vor dem Einsturz standen, waren die Kirchen, von denen es entlang der Straße etwa eine pro Meile zu geben schien – eine weißer, sauberer und herausgeputzter als die andere. Jede projizierte ihren eigenen Werbespruch auf eine Leuchttafel, wie sie Kinos benutzen, um für Filme zu werben. You can’t even write Christmas without Christ , hieß es auf einer, was natürlich stimmte, aber im April etwas merkwürdig anzusehen war.
Vielleicht dachte diese Gemeinde gern voraus.
Ich fuhr weitere zwanzig Minuten an Wohnwagen, Kirchen und einigen direkt an der Straße liegenden gepflegten Friedhöfen vorbei. Ein kleines grünes Schild wies mir den 173
Weg nach Little Lick Creek. Aber ich wollte nicht zu diesem Bach, sondern zu der gleichnamigen kleinen Bucht an seiner Einmündung in den See. Auf der wasserfesten Karte für Jäger und Angler, die ich mir gekauft hatte, waren dort zwei Gebäude eingezeichnet, für die es in der Legende am
Kartenrand kein Symbol gab, sodass es sich vermutlich um Privathäuser handelte.
Ich bog von der Asphaltstraße ab und fuhr eine
Schotterstraße hinunter, die gerade Platz genug für zwei Autos nebeneinander bot. Das links der Straße steil ansteigende Gelände fiel rechts ebenso steil ab, und der Wald, der hier noch höher und dunkler war, schien immer dichter an die Straße heranzudrängen.
Ein Verbotsschild, das aus einer grau gestrichenen Planke mit eingeschnitzten Buchstaben bestand, verkündete warnend: Schusswaffengebrauch streng untersagt! Fünfzig Meter weiter bestimmte das nächste Schild: Keine alkoholischen Getränke!
Dann folgten freundlichere Schilder, die mich in Falls Lake begrüßten, mich zu Parkplätzen und Erholungsgebieten dirigierten und mir einen schönen Aufenthalt wünschten –
sofern ich nicht schneller als fünfundzwanzig Meilen fuhr.
Dann kam mir auf der engen Straße ein wahres Ungetüm von einem Wohnmobil entgegen. Rechts vor mir zweigte ein offensichtlich befahrbarer Weg ab, den ich aber nicht mehr erreichen konnte. Ich bremste und fuhr so weit nach rechts, bis mein Wagen sich wie besoffen zur Seite neigte. Das
Winnebago war ein riesiges Gefährt, das mit genügend Kanus und Mountain-Bikes für eine ganze Olympiamannschaft
beladen war und außerdem den Kleinwagen der Familie
schleppte. Als es an mir vorbeibrauste, klatschte ein Schwall 174
schmutziges Wasser auf meine Windschutzscheibe. Der Fahrer winkte mir nicht einmal dankend zu.
Ich fuhr etwa einen Kilometer durch den Wald weiter, bevor ich einen großen Parkplatz erreichte, auf dem ich vor einer großen Übersichtskarte in einem Holzrahmen hielt. Auf Fotos, die den Kartenrand umgaben, waren alle möglichen
einheimischen Vögel, Schildkröten, Bäume und Pflanzen zu sehen; darunter waren die Gebühren des Campingplatzes angegeben, und über dem Ganzen prangte die unvermeidliche Aufforderung: Viel Spaß bei uns – machen Sie nur Fotos, hinterlassen Sie nur Fußabdrücke. Ich hatte allerdings vor, ein paar Fotos zu machen,
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