Nick Stone - 02 - Doppeltes Spiel
einem Winkel von fünfundvierzig Grad stehen. Versucht man daher, einen Gegenstand nachts klar zu sehen, indem man ihn starr fixiert, sieht man ihn nur verschwommen. Man muss gewissermaßen an ihm vorbeisehen, damit die Stäbchen sich auf ihn ausrichten und ihn klar abbilden können. Es dauert etwa vierzig Minuten, bis die Stäbchen ihre volle Sehkraft erreichen, aber schon nach fünf Minuten fängt man an, besser zu sehen.
Aus den Zelten war ab und zu das leise Klirren und Klappern des Geschirrs von Leuten zu hören, die vermutlich beim Abendessen waren. Was sie miteinander redeten, war nicht zu verstehen, aber ich konnte mir vorstellen, dass ihre Gespräche um das Thema »Wessen Idee ist dieser
Campingurlaub überhaupt gewesen?« kreisten. Und ich hörte, wie ein tragbarer Fernseher eingeschaltet wurde, aus dessen Lautsprecher Jingles und dann die Stimme eines Sportreporters kamen.
Obwohl ich mich hier noch keineswegs hinter den
feindlichen Linien befand, überlegte ich mir die ganze Zeit: Was tue ich, wenn ich jemandem über den Weg laufe? Antwort: Ich mache hier Urlaub, ich bin auf einer
Nachtwanderung. Ich würde den dämlichen Briten spielen, der ahnungslos durch die Gegend stolpert, und versuchen, die Begegnung zu meinem Vorteil zu nutzen, um möglichst viel über die beiden Häuser zu erfahren. Man braucht immer einen Grund, um sich irgendwo aufzuhalten, damit man nicht
herumstottert, wenn man angehalten wird, und sich erst eine windige Ausrede einfallen lassen muss. Außerdem erzeugt das bei einem selbst eine bestimmte Einstellung, die es einem erleichtert, den Auftrag selbstbewusster durchzuführen.
Ich verließ den gerodeten Uferstreifen, als er allmählich schmaler wurde, und arbeitete mich durch den Jungwald zwischen Zaun und Wasser vor. Dieses Wäldchen war wirklich kein Dschungel; die größeren Bäume standen eineinhalb bis zwei Meter auseinander, und zwischen ihnen wucherte Unterholz. Der Boden war an manchen Stellen nass und schlammig, aber so flach, dass ich gut vorankam.
Ich hatte eben das Ende des Zeltplatzes erreicht, als ich plötzlich dicht vor mir eine Frauenstimme kreischen hörte: »Jimmy! Jimmy!« Bevor ich wusste, wie mir geschah, war ich auf das junge Paar vom Grillplatz gestoßen, und die Art und Weise, wie ihre Kleidung jetzt arrangiert war, ließ darauf schließen, dass sie ihre Steaks auf dem Grill ganz vergessen hatten. Diese Begegnung verwirrte mich; ich hatte das junge Glück in seinem Wagen vermutet.
In solchen Fällen gibt’s zwei Möglichkeiten: Die beiden Überraschten genieren sich, murmeln eine Entschuldigung und hauen ab, oder man hat Pech, weil der andere Kerl beweisen zu müssen glaubt, dass er ein richtiger Kerl ist.
Ich blieb nicht stehen, sondern wich nach rechts aus, um die beiden zu umgehen. Während ich scheinbar darauf achtete, wohin ich trat, behielt ich in Wirklichkeit den jungen Mann im Auge. Als er »Scheiße, wer sind Sie, Mann?« brüllte, war klar, worauf die Sache diesmal hinauslaufen würde. Er hielt mich an, indem er mir eine Hand auf die Schulter legte und kräftig zudrückte. Ich hielt den Kopf gesenkt, um durcheinander und eingeschüchtert zu wirken - und um mein Gesicht zu schützen, falls die Sache ausartete.
»Äh, tut mir Leid, dass ich Sie gestört habe«, murmelte ich.
»Was soll der Scheiß?«, fragte er aufgebracht. »Sind Sie ein Spanner, oder was?«
»Jimmy!« Die junge Frau versuchte so zu tun, als bürste sie Sand von ihrem Rock. Ich konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen, aber ihr Tonfall verriet, dass sie sich genierte und abhauen wollte. Er hatte es geschafft, seine Levi’s hochzuziehen und zuzuknöpfen, aber sein Hosenschlitz stand noch weit offen. Ich sah seine Unterhose weiß hervorleuchten und musste mich beherrschen, um nicht vor Lachen loszuprusten.
Ich sprach wieder mein miserables Amerikanisch, bemühte mich aber, einen ängstlichen, unterwürfigen Tonfall in meine Stimme zu legen. »Nein, nein, durchaus nicht«, versicherte ich ihm. »Ich wollte mir nur die Schildkröten ansehen.« Das würde hoffentlich genügen, um ihn davon zu überzeugen, dass er hier der große Zampano war, sodass er mich gehen lassen würde. Mein Sportbogen passte natürlich nicht zu dieser Geschichte, aber ich hoffte, dass ihm der zwischen Rücken und Rucksack eingeklemmte Bogen nicht auffallen würde.
»Schildkröten? Wer sind Sie - Mr. Nature vom gottverdammten Discovery Channel?« Dieser Geistesblitz gefiel ihm; er lachte
Weitere Kostenlose Bücher