Nick Stone 06 - Feind ohne Namen
klang mitfühlend, nicht vorwurfsvoll.
Ich nickte. Dr. Hughes und ich hatten schon viel gemeinsam mitgemacht. Vor drei Jahren und Zehntausenden von Pfund war ich erstmals mit Kelly, die dringend Hilfe brauchte, zu ihr gekommen. Kelly glich einem großen Eimer mit Löchern - sie nahm alles in sich auf, aber dann tropfte es wieder heraus. In dem Internat, in dem sie war, bevor Josh sie zu sich nahm, begann sie, über »Schmerzen« zu klagen, konnte sie jedoch nie genau beschreiben oder auch nur lokalisieren. Dieser Zustand verschlimmerte sich langsam, und Kelly zog sich allmählich von ihren Freundinnen, ihren Lehrern und ihren Großeltern zurück. Sie wollte nicht mehr reden, nicht mehr spielen; sie sah nur noch fern, hockte trübselig herum oder schluchzte leise vor sich hin. Meine Reaktion hatte meistens darin bestanden, dass ich losfuhr und Eiscreme kaufte. Ich wusste, dass das keine Lösung war, aber mir fiel auch keine andere ein.
An einem bestimmten Abend in Norfolk war Kelly besonders abweisend und distanziert gewesen, und ich hatte es nicht geschafft, sie für irgendwas zu interessieren. Ich kam mir wie ein kleiner Junge vor, der um eine Rauferei auf dem Spielplatz herumspringt, ohne zu wissen, was er tun soll: mitmachen, sich
dazwischenwerfen oder einfach weglaufen. Zuletzt hatte ich das Zelt in ihrem Zimmer aufgestellt - es auf dem Fußboden festgenagelt -, und wir hatten Camping gespielt. Später schrak sie aus grässlichen Alpträumen hoch und schrie bis Tagesanbruch. Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber Kelly schlug nach mir, als habe sie einen Anfall. Am nächsten Morgen telefonierte ich etwas herum und erfuhr, dass die Wartezeit für einen Termin bei einem Psychologen des staatlichen Gesundheitsdienstes ein halbes Jahr betrug und ich selbst dann von Glück würde sagen können, wenn der Besuch etwas nützte. Also telefonierte ich weiter herum und fuhr noch am selben Nachmittag mit ihr zu Dr. Hughes.
Ich konnte mich etwas in Kelly hineinversetzen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich hatte erlebt, wie Männer an Kriegsneurosen litten, aber das waren große Kerle gewesen, die im Krieg gekämpft hatten. Hughes hatte mir erklärt, für ein Kind sei ein Trauerprozess nach einem Verlust normal - aber nach einem traumatischen Erlebnis konnten diese Gefühle nach Wochen, Monaten oder sogar Jahren erneut auftauchen. Die Symptome der posttraumatischen Belastungsreaktion, wie der klinische Ausdruck lautete, hatten Ähnlichkeit mit denen von Depressionen und Angstgefühlen: emotionale Leere, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, oft Wiedererleben der traumatischen Ereignisse in Alpträumen - genau wie damals bei mir am Hunting Bear Path.
Hughes’ Diagnose klang so zutreffend, aber wie ich noch entdecken sollte, war ziemlich alles wahr, was sie sagte. Kelly hatte sich noch nicht von den Ereignissen des Jahres 1997 erholt, und ich wusste nicht, ob sie’s jemals tun würde. Hatte man miterlebt, wie Vater, Mutter und Schwester der Schädel eingeschlagen worden war, musste man sich davon erst mal erholen. Aber Kelly, genau wie ihr Vater eine Kämpfernatur, hatte dramatische Fortschritte gemacht. Dank Hughes’ Betreuung hatte sie sich von einem zusammengerollten
Bündel Elend zu einem jungen Mädchen entwickelt, das in der großen bösen Welt bestehen konnte. Beschissen war nur, dass diese Welt voller Sex, Prüfungen, Jungs und Drogen war, die sich anscheinend dazu verschworen hatten, sie in das schwarze Loch zurückzuschicken, aus dem sie so mühsam entkommen war.
26
Es wurde leise an die Tür geklopft, bevor die Empfangsdame sie öffnete und den Kopf hereinsteckte. »Kelly ist da.« Wir standen auf, und Hughes setzte wieder ihr spezielles Lächeln auf.
»Dr. Hughes, ich habe ihr noch nichts gesagt und möchte es im Lauf des Tages selbst tun.«
Kelly kam herein und entschuldigte sich. »Der Taxifahrer kannte den Weg nicht. Er musste seinen Stadtplan rausholen.«
Carmen und Jimmy waren noch draußen im Empfangsbereich, und ich konnte hören, wie Jimmy eine Tirade über sich ergehen lassen musste. Carmen schaffte es irgendwie, die Unfähigkeit des Taxifahrers als seine Schuld hinzustellen. Mein Blick streifte das neue Pflaster an Kellys Finger.
»Gehen wir nach oben, Kelly?« Hughes legte ihr einen Arm um die Schultern, um sie wegzuführen. »Uns bleibt reichlich Zeit.«
Kelly nickte zufrieden, dann sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir herüber. »Bist du später noch da?«
Ich nickte.
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