Nickel: Roman (German Edition)
auf. Er besagte: »Lass mich nicht allein.« Ich zog ihr das Klebeband vom Gesicht und machte mich wieder an die Arbeit. Ich kniete neben einem Fleck, der Blut sein musste, und sägte an ihren Fußfesseln. Sie sprach, ihre Stimme klang belegt, jedes Wort kostete sie Mühe.
»Wer bist du?«
»Ich bin Nickel.«
Ich hatte eine Fußfessel durchgesägt, und sie trat sie von sich, probierte, ob ihr Bein noch funktionierte. Ich konnte es ihr nicht verdenken.
»Deine Schwester hat mich angeheuert, dich zu suchen. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.«
Irgendwie war sie nach allem, was sie durchgemacht hatte, noch immer des Staunens fähig. Flüchtig sah ich ein Funkeln in ihren Augen. »Du bist nur ein Kind, wie ich.«
»Jep.«
Ich bekam den anderen Knöchel frei und wandte mich ihren Handgelenken zu.
»Sucht die Polizei nicht nach mir?«
»Die glaubt, dein Dad hat es getan.«
»Mich entführt?«
»Dich getötet.«
Ich bekam ein Handgelenk frei; noch zwei Gurte.
»Ist er im Gefängnis?«
»Ja.«
»Er ist bestimmt furchtbar wütend!«
Darüber dachte ich eine Weile nach. Ich konnte es mir gut vorstellen. Ich bekam ihr anderes Handgelenk frei. Nur noch ein Gurt – der, der ihren Hals an ein Brett band, das am Stuhl befestigt war.
Sie sagte: »Ich habe so einen Durst.«
»Kann ich mir vorstellen. Ich hab dich gleich frei.«
Ich sah mich im Raum um und entdeckte an einer der Betonwände hinter ihr eine Visitenkarte. Ich stand auf und sagte: »Warte mal.« Die Karte war mit Malerkrepp an die Wand geklebt. Es stand nur eine Telefonnummer darauf. Ich steckte sie in die Tasche und sägte weiter.
Das Messer kam kaum gegen das grobe Gewebe des Gurts an; mit zusammengebissenen Zähnen sägte ich weiter und versuchte dabei, Shelby nicht zu würgen. Sie hatte schon genug durchgemacht – da musste ich ihr nicht auch noch wehtun. An meinem Bein vibrierte es. Ich zog das Handy aus der Tasche und meldete mich.
»Nickel?«
»Was?«
»Sie sind weg!«
»Was?«
»Sie sind weggegangen, vor etwa fünf, sechs Minuten! Ich hab sofort versucht anzurufen, aber im Wald hatte ich kein Signal!«
Ich legte auf, ließ das Handy fallen und sägte wie wild am letzten Gurt herum. Das Messer schnitt kaum noch; ich hackte aufden Riemen ein und versuchte dabei, Shelbys Würgegeräusche zu überhören. Endlich war sie frei. Ich warf den Rucksack über und steckte das Messer in die Tasche, ohne es zuzuklappen. Dann nahm ich das Telefon in eine Hand und packte mit der anderen Shelbys Handgelenk. Ich zog, ja, zerrte sie beinahe die Treppe hinauf. Hoffte inständig, dass ich nicht gleich die Haustür aufgehen hören würde.
Ich rannte und sie humpelte, vorbei an dem Hund und den verstreuten Lebensmitteln und zur Hintertür hinaus. Ich riss den Rucksack herunter, zog das Sweatshirt aus und gab es ihr; es ging ihr gerade bis auf die Oberschenkel. Ich half ihr über den Zaun und kletterte dann selbst hinterher. Hörte von ferne einen Dieselmotor, einen Pick-up. Packte ihr Handgelenk und wir rannten los, das vermutlich seltsamste Pärchen, das die Welt je gesehen hatte. Ich hielt mir das Handy ans Ohr und rief Lou an.
»Taxi, Taxi!«
»Hier ist Lou.«
»Ich brauche dich. Sofort.«
»Wo?«
»Ich bin jetzt auf der Duiker. Wir fahren mit dem Rad Richtung Westen, zu zweit, ein Rad. Mindestens zwei böse Jungs.«
»Riverside?«
»Klar.«
Wir erreichten mein Fahrrad. Ich stopfte das Handy in die Tasche, riss das Fahrrad von der Kette los und ließ sie liegen. Ich konnte eine neue besorgen. Ich stieg auf und half Shelby, sich vor mich auf den Sattel zu setzen. Legte die Arme um sie herum auf den Lenker und trat in die Pedale. Hinter uns hörte ich einen Pick-up. Einen großen.
Kapitel 36
Wir hatten etwa eine Meile Vorsprung. Ohne Shelby hätte ich irgendwo abbiegen und davonkommen können, aber ich würde sie nicht zurücklassen. Notfalls würden wir zusammen sterben. Wenn wir in Seitenstraßen einbogen, wurde das Motorengeräusch leiser, aber gleich darauf war es wieder hinter uns, hatte uns nicht erreicht, aber fast. Bis zum Riverside Park war es noch fast eine Meile. Ich gab Vollgas, fand in einen Rhythmus, stemmte mich mit dem Fahrrad gegen den Wind, spürte Eisen und Dieselqualm im Rücken. Es war mir egal. Nicht egal war mir das kleine Mädchen, das auf dem Sattel vor mir allmählich das Bewusstsein verlor. Ich spürte ihren Herzschlag an meiner Brust und sagte mir immer wieder, wenn wir sterben mussten, würde ich die Kerle
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