Nie mehr ohne deine Küsse
Pflicht, ich habe heute einen Anruf von Sylvia bekommen.“
Verdammt, mussten sie jetzt auch noch über das Thema sprechen?
„Ich auch, Großvater. Ich habe mich drum gekümmert.“
„Gut, das freut mich. Sie sagte, sie hätte seit Tagen versucht, dich zu erreichen.“
„Tante Sylvia denkt doch immer, dass alles ein Notfall ist. Und ganz ehrlich, ich lasse mir von einer Frau, die in ihrem ganzen Leben noch nie gearbeitet hat, nicht vorschreiben, wie ich meine Geschäfte zu erledigen habe.“
Das Lächeln, das die Lippen seiner Großmutter umspielte, während sie eine Tomate aufschnitt, entging Ethan nicht. Die Beziehung zwischen ihr und seiner Tante Sylvia war ziemlich kompliziert, und ihre Abneigung gegeneinander beruhte auf Gegenseitigkeit.
„Man kann aber auch ehrlich und taktvoll sein“, sagte sie jetzt und warf ihm einen ihrer typischen Blicke zu, unter denen er sich erst recht wieder wie ein Kind fühlte.
„Ich habe keine Zeit, um Tante Sylvias Gefühle herumzutänzeln. Wenn sie nur ein wenig geduldiger wäre …“
„Nicht jeder schätzt deine Direktheit, mein Lieber.“
„Dann soll sie mit jemand anderem sprechen.“
„Ethan …“ Seine Großmutter schien zu einem ihrer geliebten Vorträge ansetzen zu wollen.
„Wenn ich dir aber ganz direkt sage, wie hübsch du heute aussiehst, Großmutter, dann weißt du immerhin, dass es ein ehrliches Kompliment ist und keine Schleim…“, im letzten Moment sah er ihr Stirnrunzeln und korrigierte sich, „… kein leeres Gerede.“
„Auf jeden Fall“, fuhr sein Großvater fort, „wird Sylvia am Samstag an der Benefizveranstaltung teilnehmen, und du wirst dich zusammenreißen. Ich habe heute ein gutes Wort für dich eingelegt. Also verscherz es dir nicht wieder mit ihr.“
Dieses ewige Lächeln, Nicken und oberflächliche Getue war ein weiterer Grund, warum Ethan diese Art von Veranstaltungen hasste. Aber wenigstens stünden seine Chancen gut, sich beim nächsten Mal rausreden zu können, wenn er dieses Mal gute Miene zum bösen Spiel machte. Also nickte er bloß, und seine Großeltern schienen endlich zufrieden zu sein.
„Ach, und übrigens …“, warf seine Großmutter so beiläufig wie möglich ein – viel zu beiläufig für Ethans Geschmack –, „Senator Kingstons Tochter ist auch wieder zurück aus Europa. Sie wird am Samstag ebenfalls kommen. Sie ist wirklich ein nettes Mädchen. Ich habe mich gerade erst mit ihrer Großmutter unterhalten.“
Diese Bemerkung war wieder einmal typisch für sie. Seine Großmutter war zwar alt, aber nicht auf den Kopf gefallen. Und sie wollte unbedingt Großenkel haben.
Dieses Mittagessen entpuppte sich als anstrengender als erwartet. Und es war noch längst nicht vorbei.
Dusche. Essen. Schlafen. In dieser Reihenfolge. Lily hatte es gerade so durch den Tag geschafft. Heute Nacht würde sie gut schlafen.
Während sie sich die Treppen zu ihrem Apartment hinaufschleppte, musste sie so laut gähnen, dass ihr Kiefer knackte. Vielleicht ließ sie das Abendessen einfach ausfallen und ging direkt ins Bett. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ohne Essen einschlief, es würde sie also nicht umbringen.
Das heiße Wasser war eine unglaubliche Wohltat. Genau wie das Gefühl des frisch gewaschenen, weichen Pyjamas auf ihrer Haut. Aber nun konnte sie das Knurren ihres Magens doch nicht mehr ignorieren und machte sich ein schnelles Sandwich, um dann die Nachrichten im Fernsehen einzuschalten.
Gerade wurde Senator Marshall interviewt. Er sah seinem Sohn so ähnlich, dass ihr Herz für einen Moment aussetzte. Was seine Persönlichkeit anging, schien Ethan seinem Vater hingegen kein bisschen ähnlich zu sein. Douglas Marshall sprach sehr klar und engagiert über seine Themen. Doch er wirkte merkwürdig kalt.
Ethan schien mehr nach seinem Großvater zu schlagen, den Lily anbetete. Ihre eigenen Großväter hatte sie nie kennengelernt, doch sie stellte sich gern vor, dass sie ein bisschen wie Porter Marshall gewesen sein könnten – so unwahrscheinlich das auch sein mochte. Der ältere Marshall strahlte eine freundliche Offenheit aus, ein Wesenszug, der sich erst wieder bei seinen Enkeln zeigte.
Douglas hingegen war aalglatt. Sein Charme wirkte gezwungen, irgendwie unnatürlich. Lily wusste, dass er ein guter Senator war. Aber war er auch ein guter Mensch? Sie wusste nicht einmal, warum er so einen unangenehmen Eindruck auf sie machte. Aber bisher hatte sie sich immer auf ihr Bauchgefühl verlassen
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