Niemand kennt mich so wie du
verhauen hat.»
«Das ist keine Entschuldigung.»
«Einmal hat er ihm sogar den Arm gebrochen.»
«Und wenn er ihm das Rückgrat gebrochen hätte – das gibt ihm nicht das Recht, durch die Gegend zu laufen und Mädchen die Jogginghosen herunterzuziehen.»
«Okay, okay, komm wieder runter, Mom, nimm ’ne Chillerpille.»
Lily lachte ihre Tochter aus. «Chillerpille! Wofür hältst du dich? Für den Prinzen von Bel-Air?»
«Wer soll das denn bitte sein?», fragte Daisy, aß ihr Rührei auf und reichte ihrer Mutter den Teller, die das Geschirr kommentarlos entgegennahm.
Daisy stand auf und ging ins Esszimmer, um richtig Klavier zu spielen, und Lily machte sich daran, die Küche aufzuräumen. Sie wusste, dass sie ziemlich hart reagiert hatte, was den armen Jungen anbetraf, der ins Heim gekommen war. Schließlich hatte er Tess die Turnhose nicht heruntergezogen, und offensichtlich waren seine Lebensumstände sehr schwierig, aber Lily hatte die ständigen Entschuldigungen von Menschen für ihr schlechtes Benehmen gründlich satt. Es passierten Tag für Tag schlimme Dinge, doch das war keine Entschuldigung dafür, selbstsüchtig oder hinterhältig, gewalttätig oder bösartig zu werden. Lily hielt es für das Beste, Dinge klaglos durchzustehen, Schmerzen anzunehmen und ein Stirnrunzeln in ein Lächeln zu verwandeln, und sie würde beim besten Willen nie verstehen, weshalb andere Menschen es nicht einfach genauso machen konnten. Lily war schon immer so gewesen. Sie war mit einer Mutter aufgewachsen, die es ihr übel nahm, dass sie auf der Welt war.
Lilys Mutter May war nicht mal im Ansatz mütterlich gewesen. Sie hatte niemals Kinder gewollt. Lily war ein unglückliches Versehen gewesen. May war damals zweiundzwanzig und hatte einen guten Job bei einer Bank in Dublin. Sie liebte ihren Job, sie war gut in dem, was sie tat, und in den drei Jahren, seit sie dort angefangen hatte, schon zweimal befördert worden. Sie war bereits dreimal mit Freundinnen aus der Bank in die Sonne geflogen, ehe die meisten Menschen in Irland sich einen Sommerurlaub in fremden Ländern überhaupt leisten konnten. Sie würde etwas aus sich machen. Sie war ein ungebundenes, hart arbeitendes, lebenslustiges Mädchen, das eines Abends in einer Bar in Dublin einen griechischen Seemann kennenlernte. Er hatte gerade einen Monat frei, und sie verbrachten während seines Aufenthaltes jeden einzelnen Abend und jedes Wochenende zusammen. Dass sie schwanger war, merkte May erst, als er schon seit zwei Monaten wieder weg war. All seinen Beteuerungen zum Trotz schrieb er ihr nicht, und um ihn aufzuspüren, musste sie über die Reederei seines Schiffes gehen. Die Möglichkeit abzutreiben hatte sie nicht, und da sie aus einer aufrechten, stockkonservativen und erzkatholischen Familie stammte, wurde sie quasi verstoßen. Lilys Vater beschloss, seine Pflichten zu ignorieren, und obwohl May schließlich Verbindung zu seiner Mutter aufnahm, die im Austausch gegen Bilder und Briefe über Lilys Entwicklung ab und zu ein wenig Geld schickte, unternahm Lilys Vater bis auf wenige halbherzige Kontakte alle Jubeljahre nie wirklich eine Anstrengung, seine Tochter kennenzulernen. Als die Schwangerschaft herauskam, wurde Lilys Mutter aus ihrem Traumjob gefeuert. Ihre Familie verweigerte ihr die Rückkehr ins Elternhaus, und so war sie schließlich auf Sozialhilfe angewiesen und landete wieder in der Kleinstadt, aus der sie gekommen war. Das exotische Leben, von dem sie nur so kurz hatte kosten dürfen, war vorbei, und es gelang ihr nie, das hübsche Gesicht ihrer Tochter anzusehen, ohne an etwas anderes als an diese Tatsache zu denken.
Lily hatte, seit sie laufen konnte, versucht, ihrer Mutter zu gefallen, doch wirklich gelungen war ihr das nie. Sie konnte bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag sagen: «Schau mal Mum, schau!», ohne dass ihre Mutter je auch nur versuchte, Interesse zu heucheln.
«Geh weg, ich bin beschäftigt!»
«Aber, Mum!»
«Lass dir das nicht zweimal sagen!»
Das erste Mal, als Lily ihre Mutter tatsächlich richtig glücklich oder beeindruckt erlebt hatte, war der Tag, an dem sie einen Irish-Dance-Wettbewerb gewonnen hatte. Ihre Mutter stand auf und klatschte, und hinterher hörte Lily, wie sie einer anderen Frau erzählte, dass Lily ihre Tochter sei. Bis dahin hatte sie alles nur Erdenkliche versucht, um ihre Mutter zu erfreuen, außer vielleicht, sich auf den Kopf zu stellen und mit den Ohren zu wackeln. Und nach fünf Jahren war es ihr schließlich
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