Niewinter 01 - Gauntlgrym
Schwertküste. Als Alegni die Stadt von der Veranda des Glücksdrachen aus betrachtete, bemerkte er wieder einmal, wie stark Niewinter in den letzten Jahrzehnten gewachsen war, seit Luskan an die Piratenkapitäne gefallen und Letzthafen ins Hintertreffen geraten war. Wie viele lebten inzwischen innerhalb der Mauern und um die eigentliche Stadt herum? An die dreißigtausend?
Trotz der hohen Zahl war es ein unorganisierter Haufen mit einer jämmerlichen Miliz und einem Grafen, dem sein Abendessen wichtiger war als der Schutz seiner Stadt. Graf Hugo Babris war seiner Sache zu sicher gewesen. Zwischen dem wilden Luskan im Norden und dem mächtigen Tiefwasser im Süden war Niewinter lange unbehelligt geblieben. Angreifer hätten sowohl der Armada von Tiefwasser ausweichen als auch den vielen Freibeutern entrinnen müssen, welche die Gewässer nördlich dieser Großstadt heimsuchten.
Deshalb war Niewinter schlecht auf das Eintreffen der Nesserer vorbereitet gewesen – doch wer ist schon auf das Nahen der Finsternis vorbereitet? Diesen Umstand hatte Erzgo Alegni zu nutzen gewusst. Und da nicht Niewinter das eigentliche Ziel seines Auftrags war, sondern der Wald im Südosten der Stadt, hatte der Tiefling Hugo Babris in dem Glauben gelassen, er hätte in seiner Stadt noch das Sagen.
Alegnis Blick schweifte zum Hafenviertel, das sich in den unruhigen letzten Jahren am wenigsten verändert hatte. Die Versunkene Buddel war zu sehen, wo Barrabas vermutlich die Nacht verbracht hatte. Alegnis lächelte unwillkürlich bei den Erinnerungen an die Zeit vor der Zauberpest. Als junger Krieger hatte er dort sein Glück gesucht wie so viele andere selbstsichere Abenteurer. Damals mussten Tieflinge sich noch bedeckt halten und ihre besondere Abstammung im Schatten verbergen. Was für ein Glück, dachte Alegni, denn genau in jenen Schatten hatte er etwas Größeres gefunden, etwas Schwärzeres.
Der Kriegsherr schüttelte seine leicht melancholischen Gedanken ab und wandte sich dem Fluss von Niewinter zu, der von drei kunstvollen Brücken überspannt wurde. Alle drei waren schön, denn die Handwerker von Niewinter waren stolz auf ihr Können, aber eine zog Alegni besonders in Bann. Sie hatte reich verzierte Drachenschwingen, die sich nach beiden Seiten ausbreiteten. Von den drei Brücken, welche die Nordhälfte der Stadt mit der Südhälfte verbanden, beeindruckte ihn diese eine, die wie ein großer, geschmeidiger Lindwurm im Abflug wirkte, am meisten. Sie hielt schon viele Jahre, weil ihre Konstruktion auf einem von Zwergen geschmiedeten Metallgitter ruhte und ständig verstärkt wurde. Aus der Ferne war sie eine Augenweide, und dieses Gefühl wurde bei näherem Hinsehen nur noch stärker. Die Brücke war in jeder Hinsicht perfekt – bis auf ihren Namen: Geflügelte-Lindwurm-Brücke.
Die Narren hatten diesem prächtigen Gebilde einen absolut weltlichen Namen gegeben, der nur ihr Äußeres beschrieb, eines Kunstwerks jedoch nicht würdig war.
Alegni marschierte die gepflasterte Straße hinunter. Er wollte unbedingt vor Barrabas an der Brücke sein, wo sie sich verabredet hatten. Schließlich hatte er den Mörder monatelang nicht gesehen. Schon beim ersten Anblick wollte er Barrabas den Grauen daran erinnern, weshalb er sich nicht mit dem großen Alegni angelegt hatte.
Kurz darauf erreichte er die Brücke, erklomm die leichte Anhöhe zum Rücken des Lindwurms und genoss, wie die Menschen von Niewinter ihm eilig den Weg freigaben, wobei ihre Augen misstrauisch zu dem Schwert mit der roten Klinge wanderten, das an seiner Hüfte hing. Alegni ging zum höchsten Punkt in der Mitte der Brücke, gleich hinter dem Flügelansatz, legte die Hände auf die westliche Brüstung und starrte zu den beiden anderen Brücken hinüber, dem Delfin und dem Schlafenden Drachen. Dabei bemerkte er hochzufrieden, dass der Verkehr auf dem Geflügelten Lindwurm langsamer geworden war.
Schließlich war es nicht einfach einer der vielen Schatten aus Nesser, die in Niewinter umherschlichen, der die Brücke betreten hatte, sondern Erzgo Alegnis persönlich.
Ja, er war hochzufrieden, als er von hier aus den Fluss und die Küste betrachtete und den vernachlässigten Zustand der anderen Brücken registrierte – bis der Zeitpunkt kam, an dem er die leise Stimme von hinten hörte, ohne dass er vorher etwas hinter sich bemerkt hätte. »Du wolltest mich sprechen?«
Alegni widerstand dem Impuls, seine Waffe zu ziehen und den Mann anzugreifen. Stattdessen blickte er
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