Niewinter 02 - Salvatore, R: Niewinter 02 - Neverwinter
Luft holend schwang sich Dahlia über die zertrümmerte Veranda und landete leichtfüßig auf dem Pflaster der leeren Straße.
Dort streifte sie eilig ihre Stiefel über, zerlegte den Stab in zwei Flegel, die leichter mitzuführen waren, und rannte durch die mondhellen Straßen der schlafenden Stadt.
Vor dem Juweliergeschäft blieb sie eine ganze Weile stehen, beobachtete die wenigen Leute, die unterwegs waren, und prüfte, was sie sich zunutze machen konnte. Es gab zwar ein paar Stadtwachen, aber Dahlia konnte natürlich davon ausgehen, dass die meisten sich nur wenig um den Juwelier von Schiff Kurth scheren würden. So war das nun einmal in Luskan: Stadtwachen waren ihrem Schiff verpflichtet und letztlich nur ihrem eigenen Hochkapitän treu.
Mit demselben Manöver, das sie in die Wohnung über der Veranda katapultiert hatte, schwang Dahlia sich auf das Dach des Ladens. Sie stieg zum First hinauf und überlegte, wo der Schaukasten mit den Diamanten stehen müsste, ehe sie mit dem Stab die Schieferziegel zur Seite schob und dabei zufrieden feststellte, dass etliche von ihnen sich durch die raue Seeluft von Luskan bereits gelockert hatten. Hier war es immer feucht, immer windig und häufig eiskalt, denn die Stadt der Segel bekam den frischen Atem des Ozeans ungebremst zu spüren.
Dahlia vertäute ihr Seil an dem gemauerten Schornstein und schob sich zu der Stelle hinüber. Mit einem zwei Fuß langen Abschnitt ihres Stabs löste sie weitere Ziegel und stocherte dann in den morschen Dachlatten darunter herum. Bald war das Loch so groß, dass sie Arme und Kopf hindurchstecken konnte. Sie zündete eine Kerze an und nickte zufrieden, als sie feststellte, dass sie sich direkt über dem Schaukasten befand. An dem Seil, das durch einen Karabinerhaken an ihrem Harnisch lief und fest um ihren Leib geschlungen war, ließ sie sich kopfüber in den Raum hinunter.
Unmittelbar über dem Kasten machte sie Halt und platzierte die Kerze auf dem Glas. Sie hatte einen Glasschneider und eine Saugglocke dabei, doch während sie noch überlegte, ob sie diese benutzen oder direkter vorgehen sollte, nahm eine Stimme ihr die Entscheidung ab.
»Welch eine Enttäuschung«, bemerkte Beniago, der seitlich aus dem Schatten trat.
Dahlia reagierte beim ersten Wort, das von seinen Lippen kam. Mit der einen Hand stach sie mit Kozahs Nadel nach unten und zerschlug die obere Glasscheibe des Schaukastens. Gleichzeitig löste sie den Haken, um sich aus dem Seil zu befreien, und ergriff mit der freien Hand das Seil so, dass sie sich umdrehen konnte und breitbeinig auf dem Metallgerüst des Kastens zum Stehen kam.
»Ich bin steigerungsfähig«, erwiderte sie kühl, als hätte sie den Mann die ganze Zeit erwartet. Sie nahm eine Verteidigungshaltung ein, suchte auf dem schmalen Rand des Kastens einen besseren Stand und drehte langsam den Acht-Fuß-Stab in beiden Händen.
Beniago näherte sich im Zickzack, als ob er ein Geschoss von Dahlia erwarten würde. Keine fünf Schritte vor ihr sah er erst sie und dann den zerschlagenen Kasten an und schüttelte den Kopf.
»Der Diamant«, sagte er, »den Hochkapitän Kurth dir schenken wollte.«
»Geschenke gibt es nicht.«
»Wie zynisch, hübsche Dame.«
»Eher bittere Erfahrung. Geschenke haben Bedingungen.«
»Und wäre das so schlimm gewesen, insbesondere angesichts deiner Beziehung zu Schiff Rethnor, das schließlich ein mächtiger Feind ist?«
»Die machen mir keine Angst.«
»Offenkundig nicht.«
»Ebenso wenig wie Schiff Kurth.«
»Dennoch würde ich meine Pflicht gegenüber Hochkapitän Kurth vernachlässigen, wenn ich unser Angebot an dieser Stelle nicht wiederholen würde. Nimm den Diamanten, den du begehrst …«
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als Dahlia auch schon explodierte. Sie teilte ihren Stab in der Mitte und nutzte die Hälften wie eine riesige Pinzette. Mit geübter Körperbeherrschung packte sie die samtene Unterlage samt dem Diamanten darauf und ließ diesen mit einem Ruck aus dem Handgelenk vor sich in die Luft schnellen. Als der Stab wieder zusammenklickte, hatte sie eine Hand frei, mit der sie den Edelstein im Fall direkt in ihre Tasche lenken konnte. Und während dieses kurzen Manövers ließ Dahlia Beniago keinen Moment aus den Augen.
Der Meuchelmörder zeigte sich belustigt und vielleicht auch etwas erstaunt, denn er grinste kopfschüttelnd.
»Nimm den Diamanten deiner Wahl«, wiederholte er schmunzelnd, »und ich bezahle dir sogar die Reparatur des Schaukastens
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