Nimue Alban 10 - Der Verrat
eigenen Sattel genommen. Während des Ritts saß Daivyn also vor dem Seijin. Merlin hatte dabei einen Arm um den Jungen gelegt und ihm, während die unerbittliche Flucht weiter und weiter ging, ein atemberaubendes Märchen nach dem anderen erzählt. Irys kannte nicht einmal die Hälfte der Geschichten, die der Seijin so mühelos zu erzählen wusste. Zwischen den einzelnen Märchen hörte sie immer wieder, wie Merlin völlig ruhig Daivyns Fragen beantwortete, ohne dabei auch nur im Mindesten herablassend zu klingen. Hin und wieder geschah es auch, dass Irys zu ihrem Bruder hi n überschaute und feststellen musste, dass der Kleine friedlich schlief. Trotz der unablässigen Bewegung des Pferdes hing er entspannt und völlig sicher im Arm des Seijin, der a n scheinend niemals ermüdete.
Kein Wunder, dass Daivyn ihn so bewundernd anblickte!
Und dazu kam noch etwas: Entweder besaß Merlin das Talent, sich wie eine Brief-Wyvern zu orientieren, oder sie alle hatten sich hoffnungslos verirrt, und der charisianische Waffenträger war einfach nicht bereit, das einzugestehen. Nicht ein einziges Mal hatte er bei der Entscheidung gez ö gert, welchen Weg sie nehmen sollten. Nie hatte er angeha l ten, um nach irgendwelchen Orientierungspunkten Ausschau zu halten. Es war, als spüre der Seijin einfach von Natur aus, wo er sich gerade befand, und wisse deswegen auch, wohin es weitergehen musste. Es war beinahe schon unheimlich, mit welcher Sicherheit Merlin immer den einfachsten, schnellsten Weg fand. In Corisande hatte Irys an so mancher Jagdgesellschaft teilgenommen. Die Jäger dort waren mit dem Terrain bestens vertraut gewesen, und doch hatte die Prinzessin nie erlebt, dass sich jemand derart mühelos in solch schwierigem Gelände zurechtfand. Um ehrlich zu sein, begann sie sich allmählich zu fragen, ob es etwas gäbe, was der Seijin ausnahmsweise nicht konnte.
»Ich muss dir beipflichten, Irys. Er ist wirklich beme r kenswert «, sagte Coris leise. Auch sein Blick ruhte auf D a ivyn, dem der Seijin gerade ein Stück Käse reichte. Der Ju n ge strahlte Merlin regelrecht an. »Und es tut meiner Seele richtig gut zu sehen, wie er mit Daivyn umgeht. Aber vergiss nicht: er ist Charisianer! Seine Treue gilt allein Cayleb und Sharleyan. «
»Ach, das vergesse ich schon nicht! «, gab Irys zurück, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Aber ich habe nicht den Eindruck, Merlin würde nur so tun, als wäre er ein guter Mensch, Phylyp. Was das angeht, hat Daivyn ein wir k lich gutes Gespür. Und nun sieh dir an, wie offen er mit Merlin umgeht! Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein solcher Mann im Dienste eines Unmenschen bliebe. O der «, wieder blickte sie Coris an und schaute ihm fest in die Augen, »im Dienste von jemandem, der einen schon besie g ten Gegner ermorden lässt, nachdem besagter Gegner bereits über die Bedingungen einer ehrenvollen Kapitulation ers u chen wollte. «
»Das sehe ich auch so «, erwiderte Coris nach kurzem Nachdenken. »Und ich denke auch, dass Cayleb und Sharleyan so ehrenvoll sind, wie man als Regent eben sein kann. Aber sie sind eben immer noch Regenten, Irys! Selbst die besten Regenten sind hin und wieder gezwungen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihre Untertanen und ihre Reiche zu beschützen. Und Daivyn hat für sie einen enormen Wert. «
»Ich weiß, Phylyp. Ich weiß. «
Merlin zog die Zügel an, als sein erschöpftes Pferd den Hügelkamm erreichte. Dann spähte der Seijin nach Osten, in das Flusstal des Sarm hinab. Zu beiden Seiten erstreckten sich die Sarman Mountains, erstarrte Wellen aus endlosem Grün in einem Ozean aus festem Stein und Erdreich. Vor zwei Tagen nun hatten die Flüchtenden den König Zhames ’ Palast verlassen. Im Westen, hinter den Berggipfeln über Merlins rechter Schulter, hatte der Himmel die Farbe frisch gehämmerten Kupfers angenommen. Obwohl sie immer und immer wieder die Pferde wechseln konnten, war ihre G e schwindigkeit mittlerweile deutlich gesunken. Auch Pferde, die keine Reiter tragen, ermüden mit der Zeit.
»Was ist denn, Merlin? «, fragte der Junge, der vor ihm im Sattel saß. Er war beinahe elf Jahre alt – damit war er nach dem Kalender der zerstörten Welt Terra noch keine zehn, und das Tempo, auf das Merlin unbeirrt bestand, hatte ihn sichtlich mitgenommen. Aber Erschöpfung verspürten alle Lebewesen aus Fleisch und Blut in dieser Reisegruppe, das wusste Merlin. Doch nun waren es bis zum vereinbarten Treffpunkt keine
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