Nirgendwo in Afrika
Mittag hinauszuzögern. Er bemühte sich, mit der Andeutung eines Lächelns und vielen versöhnlichen Gesten Verständnis für die Erregung zu zeigen, die seine Pflicht zur Gesetzestreue bei der Trauergemeinde auslöste, doch er verschloß sich jedem Einwand, selbst den in durchaus verständlichem Englisch vorgetragenen Argumenten, daß der Professor Anspruch hatte, auf seinem letzten Weg von Tochter und Schwiegersohn begleitet zu werden.
»Wenn der Radio hören statt beten würde, wüßte er, daß die Straße von Gilgil nach Nairobi nur noch Matsch ist«, sagte Elsa Conrad erbittert. »Einen Mann wie den Professor verscharrt man nicht ohne seine Angehörigen.«
»Ohne solche frommen Männer wie den Rabbiner hier, gäbe es überhaupt keine Juden mehr«, versuchte Walter zu vermitteln, »der Professor hätte das verstanden.«
»Verdammt noch mal, mußt du denn immer Verständnis für andere Leute haben?«
»Das Kreuz trage ich schon mein ganzes Leben.«
Lilly und Oscar Hahn erreichten den Friedhof, als die Sonne kaum noch einen Schatten warf und der kleine Kreis der Ratlosen bekümmert am Grab stand. Nach den Gebeten hatte der Rabbiner eine kurze englische Ansprache voll Wissen und Weisheit gehalten, doch die Empörung und vor allem die mangelnden Sprachkenntnisse der meisten Anwesenden hatten die Unruhe nur noch gesteigert.
Oscar, in einer Khakihose und einer zu engen, dunklen Jak-ke, war ohne Krawatte, hatte Spuren von eingetrocknetem Lehm auf Hose und Stirn und atmete schwer. Er brachte kein Wort heraus und lächelte befangen, als er ans Grab trat. Lilly hatte die Hose an, in der sie abends die Hühner fütterte, und einen roten Turban um den Kopf. Sie war so nervös, daß sie vergaß, am Friedhofstor die Wagentür zuzuschlagen. Ihr Pudel, der genau wie Oscar in den letzten beiden Jahren sehr viel älter, grauer und dicker geworden war, hetzte hechelnd hinter ihr her. Jenseits der hohen Bäume rief Manjala, den Regina sofort an seiner heiseren Stimme erkannte, nach dem Hund. Er beschimpfte ihn als Sohn der gefräßigen Schlange von Rumuruti und drohte ihm abwechselnd mit ihrer Wut und der Rache des nie verzeihenden Gottes Mungo.
Regina mußte das Lachen, das mit der Wucht eines wütenden Wasserfalls in ihre Kehle drängte, wie zu reife und gedankenlos zerkaute Pfefferbeeren hinunterwürgen; in Gedanken an den Professor gab sie sich auch Mühe, ihr Gesicht beim Anblick von Lilly und Oha von Freude freizuhalten. Sie stand zwischen Walter und Jettel unter einer Zeder, auf der ein balzender Glanzstar trotz der Mittagshitze in hellen, hohen Tönen um Aufmerksamkeit buhlte. Als Regina sah, wie Lilly rannte und daß die Anstrengung Falten in ihr Gesicht bohrte, fiel ihr ein, daß sich der Professor gesorgt hatte, seine Tochter könnte zu spät zum Gesangsunterricht kommen. Zuerst dachte Regina, sie müßte doch noch lachen, und sie biß sich erschrocken auf die Lippen, dann spürte sie Tränen, obwohl ihre Augen noch trocken waren.
In dem Moment, als Lilly das Grab erreichte und erleichtert aufseufzte, nahm der Pudel die Witterung von Reginas Haut auf und sprang mit schrillem Freudengeheul an ihr hoch, ehe er sich zwischen ihre Beine verkroch. Sie streichelte ihn, um sich und ihn zu beruhigen, und erregte so die Aufmerksamkeit des Rabbiners, der sie und den winselnden Hund anstarrte und dabei die Lippen zusammenkniff.
Oha sagte sehr leise, und immer noch nicht bei Atem, Kad-disch für den Toten, doch seine Eltern waren vor so langer Zeit gestorben, daß er sich nicht schnell genug an den Text des Gebets erinnern konnte und für jedes Wort eine Vergangenheit beschwören mußte, die ihm im Moment seiner erschöpfenden Erregung mit falschen Lauten abspeiste. Alle merkten, wie peinlich es ihm war, daß er die Hilfe eines eifrigen, kleinwüchsigen Mannes annehmen mußte, den niemand kannte und der genau im richtigen Augenblick hinter einem Grabstein aufgetaucht war.
Der Fremde mit Bart und hohem schwarzem Hut erschien schon deshalb zu jeder Beerdigung in Kreisen der Refugees, weil er stets auf die Erfahrung bauen konnte, daß die wenigsten von ihnen orthodox genug waren, um das Totengebet fließend zu sprechen, und daß sie sich fast immer mit der Großzügigkeit von Menschen, die sich das Geben nicht leisten konnten, erkenntlich für seine Hilfe zeigten.
Nachdem Oha endlich das letzte Wort vom Totengebet gestottert hatte, wurde das Grab rasch zugeschaufelt. Auch der Rabbiner schien in Eile. Er hatte sich schon
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