Nirgendwo in Afrika
Norfolk Hotel ein. Jettel hatte schon auf der Fahrt, getröstet und beruhigt von der Schicksalsgemeinschaft, ihre Angst vor der ungewissen Zukunft und den Schock der plötzlichen Trennung von Walter überwunden und empfand die unerwartete Erlösung von der Einsamkeit und Eintönigkeit der Farm als Wohltat. Sie war so fasziniert von der Eleganz und der animierten Stimmung des Hotels, daß sie zunächst einmal, wie die anderen Frauen auch, die Ursache für die abrupte Wende in ihrem Leben aus dem Blickfeld verlor.
Auch Regina war geblendet. In Rongai hatte sie sich geweigert, auf den Lastwagen zu steigen, und mußte mit Gewalt hinaufgezerrt werden. Auf der Fahrt hatte sie nur geweint und nach Owuor, Aja, Suara, Rummler und ihrem Vater gerufen, doch der Glanz der vielen Lichter, die Gardinen aus blauem Samt an den hohen Fenstern, die Bilder in Goldrahmen und die roten Rosen in silbernen Kelchen, dazu die vielen Menschen und Düfte, die sie noch mehr erregten als die Bilder, lenkten sie sofort von ihrem Kummer ab. Sie stand mit offenem Mund da, hielt sich am Kleid ihrer Mutter fest und starrte die Krankenschwestern mit den gestärkten weißen Häubchen an.
Das Dinner hatte gerade begonnen. Es war eines jener sorgsam komponierten Menüs, für die das Norfolk nicht nur in Kenia, sondern in ganz Ostafrika berühmt war. Der Chefkoch, ein Mann aus Südafrika und mit Erfahrungen auf zwei Luxusschiffen, hatte nicht die Absicht, nur deshalb mit der Tradition des Hauses zu brechen, weil irgendwo in Europa ein Krieg ausgebrochen war und ausschließlich Frauen und Kinder im Speisesaal saßen.
Am Vortag war Hummer aus Mombasa angeliefert worden, Lamm aus dem Hochland und grüne Bohnen, Sellerie und Kartoffeln aus Naivasha. Zum Fleisch gab es die Minzsauce, die als legendäre Spezialität des Norfolk galt, Gratin auf französische Art, tropische Früchte in zartem Bisquit und eine Käseauswahl, die mit Stilton, Cheshire und Cheddar aus England durchaus noch dem Friedensangebot entsprach. Daß viele Portionen Hummer und Lamm unberührt in die Küche zurückgingen, führte der Koch am ersten Abend auf die Übermüdung der Gäste zurück. Als jedoch die Abneigung gegen Schalentiere und Fleisch anhielt, wurde ein Vertreter der Jüdischen Gemeinde Nairobi um Rat gebeten. Er konnte zwar über die jüdischen Speisevorschriften aufklären, wußte aber auch nicht, weshalb die Kinder ihre Minzsauce über die Desserts gossen.
Der Koch verfluchte erst den »bloody war« und sehr bald die »bloody refugees«.
Auch ein geräumiges Hotel wie das Norfolk hatte nicht genug Platz für einen so ungewöhnlichen Ansturm von Gästen. So mußten sich zwei Frauen mit ihren Kindern ein Zimmer teilen. Man scheute sich, auf die Räumlichkeiten für das Personal zurückzugreifen. Die standen zwar frei, weil die Frauen und Kinder entgegen den üblichen Gewohnheiten im Norfolk ohne ihre persönlichen Boys und Ajas angereist waren, aber es widersprach dem Geschmacksempfinden des Hotelmanagers, Europäer in den Quartieren für Schwarze wohnen zu lassen.
Regina teilte mit einem Mädchen, das einige Monate älter war als sie, eine Couch. Das führte in der ersten Nacht zu Schwierigkeiten, weil beide als Einzelkinder nicht an engen Kontakt gewöhnt waren, überbrückte aber um so rascher Angst und Scheu. Inge Sadler war ein kräftiges Kind, das Dirndl trug und in Nachthemden aus blau-weiß kariertem Flanell schlief. Sie war sehr selbständig, liebenswürdig und sichtbar beglückt von der Aussicht auf eine Freundin. Ihren bayerischen Dialekt hielt Regina in den ersten Tagen für Englisch, aber sie gewöhnte sich schnell an die Aussprache der neuen Freundin und bewunderte sie, weil sie lesen und schreiben konnte.
Inge war noch ein Jahr in Deutschland zur Schule gegangen und bereit, ihre Kenntnisse an Regina weiterzugeben. Wenn Inge nachts aufwachte, weinte sie angstvoll und mußte von der Mutter beruhigt werden, die trotz ihrer Energie und Strenge am Tage so sanft wie Aja trösten konnte und Reginas Herz ebenso schnell eroberte, wie es Owuor im alten Leben getan hatte. Als Regina Frau Sadler von Suara erzählte, holte sie aus ihrem Handarbeitskorb blaue Wolle und häkelte ihr ein Reh.
Die Sadlers stammten aus Weiden in der Oberpfalz und waren erst ein halbes Jahr vor Kriegsausbruch nach Kenia gekommen. Zwei Brüder hatten ein Bekleidungsgeschäft gehabt, der dritte war Landwirt. Ihre drei Frauen waren zu resolut, um dem Glanz der Vergangenheit
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