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Nirgendwo in Afrika

Titel: Nirgendwo in Afrika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Stoff.
    Keuchend von der Anstrengung des schnellen Laufens, wartete Kimani auf die Freude, die er sonst empfand, wenn die beiden auf ihn zuliefen, aber die Zufriedenheit zögerte ihre Ankunft zu lange hinaus und verschwand so plötzlich wie der Nebel am Morgen. Obwohl die Kälte schon an seiner Haut leckte, liefen ihm scharfe Tropfen von Schweiß in die Augen. Mit einem Mal kam sich Kimani wie ein alter Mann vor, der seine Söhne verwechselt und in den Söhnen von den Söhnen seine Brüder sieht.
    Kimani spürte die Hand vom Bwana auf seiner Schulter, aber er war zu verwirrt, um Wärme aus dem vertrauten Genuß zu holen. Er bemerkte, daß die Stimme vom Bwana nicht kräftiger war als die eines Kindes, das die Brust seiner Mutter nicht sofort findet. Da wußte er, daß die Furcht, die wie ein plötzlich ausgebrochenes Fieber über ihn gekommen war, ihn rechtzeitig angetrieben hatte.
    »Sie haben durch das Rote Kreuz geschrieben«, flüsterte Walter. »Ich wußte gar nicht, daß das geht.«
    »Wer? Sag schon. Wie lange willst du den Brief noch in der Hand halten? Mach ihn auf. Ich habe schreckliche Angst.«
    »Ich auch, Jettel.«
    »Mach schon.«
    Als Walter das dünne Blatt Papier aus dem Umschlag holte, fiel ihm das Herbstlaub im Sohrauer Stadtwald ein. Obwohl er sich sofort und verbissen gegen die Erinnerung wehrte, sah er in peinigender Deutlichkeit die Umrisse eines Kastanienblattes. Danach wurden seine Sinne stumpf. Nur die Nase narrte ihn noch mit einem Duft, der ihn quälte.
    »Vater und Liesel?« fragte Jettel leise.
    »Nein. Mutter und Käte. Soll ich dir vorlesen?«
    Die Zeit, die Jettel brauchte, um ihren Kopf zu bewegen, war Gnadenfrist. Sie reichte Walter, die zwei unverkennbar in großer Not geschriebenen Zeilen zu lesen und dabei den Brief so dicht vor seinem Gesicht zu halten, daß er Jettel nicht anschauen mußte und sie ihn nicht sehen konnte.
    »Meine Lieben«, las Walter vor, »wir sind sehr aufgeregt. Morgen müssen wir nach Polen zur Arbeit. Vergeßt uns nicht. Mutter und Käte.«
    »Ist das alles? Das kann doch nicht alles sein?«
    »Doch, Jettel, doch. Sie durften nur zwanzig Worte schreiben. Eins haben sie verschenkt.«
    »Warum Polen? Dein Vater hat doch immer gesagt, die Polen seien noch schlimmer als die Deutschen. Wie konnten sie das nur tun? In Polen ist doch Krieg. Dort sind sie noch schlechter dran als in Breslau. Oder glaubst du, sie wollen versuchen, noch über Polen auszuwandern? Sag doch endlich was!«
    Der Kampf, ob es eine verzeihbare Sünde sein könnte, Jettel zum letztenmal der Barmherzigkeit der Lüge anzuvertrauen, war nur kurz. Schon der Gedanke an Flucht erschien Walter Gotteslästerung und Fluch.
    »Jettel«, sagte er und gab es auf, nach Worten zu suchen, um die Wahrheit erträglich zu machen, »du mußt es wissen. Deine Mutter wollte es so. Sonst hätte sie diesen Brief nicht mehr geschrieben. Wir dürfen nicht mehr hoffen. Polen bedeutet Tod.«
    Regina lief langsam mit Rummler von der Toilette zum Haus. Sie hatte ihre Lampe angemacht und ließ den Hund auf dem mit hellen Steinen gepflasterten Pfad zwischen dem Rosenbeet und der Küche nach den schwankenden Schatten jagen. Der Hund versuchte, seine Pfoten in die schwarzen Flecke zu  graben, und jaulte enttäuscht, sobald sie zum Himmel flogen.
    Walter sah, daß Regina lachte, doch gleichzeitig hörte er, daß sie »Mama« schrie, als sei sie in Todesnot. Zunächst dachte er, die Schlange wäre aufgetaucht, vor der Owuor am Morgen gewarnt hatte, und er brüllte: »Bleib stehen.« Als die Schreie jedoch lauter wurden und jeden anderen Laut in der herbeistürzenden Dunkelheit verschluckten, erkannte er, daß es nicht Regina war, die nach ihrer Mutter rief, sondern Jettel.
    Walter streckte seiner Frau beide Arme entgegen, ohne daß er sie erreichte, und es gelang ihm schließlich, einige Male ihren Namen in die Angst hineinzurufen. Aus der Scham, daß er unfähig zum Mitleiden geworden war, wurde Panik, die jedes seiner Glieder lähmte. Noch mehr demütigte ihn die Erkenntnis, daß er seiner Frau die furchtbare Gewißheit neidete, die das Schicksal ihm für seinen Vater und seine Schwester versagte.
    Nach einer Zeit, die ihm sehr lang erschien, wurde ihm bewußt, daß Jettel aufgehört hatte zu schreien. Sie stand vor ihm mit hängenden Armen und bebenden Schultern. Da endlich fand Walter die Kraft, sie zu berühren und nach ihrer Hand zu greifen. Schweigend führte er seine Frau ins Haus.
    Owuor, der sonst nie die Küche

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