Nirgendwo in Afrika
seinen Armen wie ein Kind und summte das traurige Lied vom Löwen, der seine Kraft verloren hat.
Professor Gottschalk war in den letzten Monaten schmal und sehr schweigsam geworden. Er lief, als würde ihn jeder Schritt schmerzen, scherzte nicht mehr mit den Babys im Kinderwagen, streichelte nur noch selten einen Hund, und es kam auch kaum noch vor, daß er jungen Frauen Komplimente machte. Eingeweihte wollten wissen, sein Verfall hätte ausgerechnet zu der Zeit begonnen, als die Alliierten täglich ihre Bomben auf deutsche Städte abwarfen, aber der beliebte Professor war zu keinem Gespräch über dieses Thema bereit gewesen. Nun saß er am Tag des glanzvollen Triumphs mit bleichem Gesicht auf einem alten Küchenstuhl vor seinem Flat und, statt wie gewohnt zu lesen, starrte er grübelnd in die Bäume und murmelte wiederholt »Mein schönes Frankfurt« vor sich hin.
So wie ihm wurde es vielen Refugees unerwartet schwer, ihre Erleichterung über das seit Tagen erwartete Kriegsende in passender Form zu zeigen. Es gab einige, die schon lange nicht mehr Deutsch sprechen mochten und die wirklich glaubten, sie hätten ihre Muttersprache vergessen. Ausgerechnet sie mußten in einem so glücklichen Moment feststellen, daß ihr Englisch keineswegs ausreichte, ihren befreiten Gefühlen Ausdruck zu geben. Mit einer Bitterkeit, die sie sich nicht erklären konnten, beneideten sie die Menschen, die ungeniert weinten. Solche Tränen der Erlösung ließen indes bei ihren britischen Nachbarn die Vermutung aufkommen, die Refugees hätten insgeheim doch zu Deutschland gehalten und betrauerten nun den verdienten englischen Sieg.
Jettel empfand nur flüchtiges Bedauern, daß sie, wie es sich für die Frau eines Kriegsteilnehmers gehörte, den außergewöhnlichen Abend nicht mit Walter verbringen konnte. Sie war jedoch zu sehr an den zweiwöchentlichen Rhythmus seiner Besuche gewöhnt und fand die Gemeinsamkeit so angenehm dosiert, daß sie selbst an einem Tag, der wahrlich vielversprechend war, keine Veränderung wünschte. Zudem war sie in zu guter Stimmung, um sich mehr als nötig mit ihrem Gewissen zu plagen. Auf den Tag genau waren es drei Monate, seitdem sie im Horse Shoe arbeitete und seitdem allabendlich die lang vermißte Bestätigung bekam, daß sie noch eine junge und begehrenswerte Frau war.
Der Horse Shoe mit seiner Theke in Hufeisenform war das einzige Lokal in Nairobi, in dem weiße Frauen hinter einem Tresen standen. Obwohl kein Alkohol serviert wurde, galt das freundliche Etablissement mit den roten Wänden und weißen Möbeln als Bar. Sie war bei den vorwiegend männlichen Gästen gerade deshalb so beliebt, weil Frauen und nicht einheimische Kellner bedienten. Die jungen Offiziere aus England, die regelmäßig im Horse Shoe verkehrten, hatten ständig Heimweh und einen unstillbaren Hunger nach Kontakt und Flirt. Sie störten sich weder am harten, mit Berliner Zunge zu laut gesprochenen Englisch von Elsa Conrad noch an Jettels kümmerlichem Wortschatz. Die Gäste empfanden gerade ihn als angenehm; sie konnten ihren Charme entfalten, ohne zu viele Worte zu bemühen. Es war ein gegenseitiges Beschenken. Jettel gab ihnen das Gefühl einer Wichtigkeit, die sie nicht hatten, und ihr kamen die Freundlichkeit und die frohe Stimmung, die sie entfachte, wie eine Medizin vor, die einem Menschen nach schwerster Krankheit die nicht mehr erwartete Genesung bringt.
Wenn sich Jettel am späten Nachmittag schminkte, neue Frisuren ausprobierte oder nur versuchte, sich an ein besonders aufregendes Kompliment der jungen Soldaten zu erinnern, die merkwürdigerweise alle John, Jim, Jack oder Peter hießen, verliebte sie sich immer wieder aufs neue in ihr Spiegelbild. An manchen Tagen neigte sie gar dazu, an Reginas Feen zu glauben. Ihre helle Haut, die auf der Farm immer gelb oder grau gewesen war, bildete nun den alten, schönen Kontrast zum dunklen Haar, die Augen glänzten wie bei einem mit Lob verwöhnten Kind, und die sich abzeichnende Molligkeit gab der scheinbaren Unbekümmertheit ihres Wesens anziehende Weiblichkeit.
Im Horse Shoe konnte Jettel für einige Stunden vergessen, daß sie und Walter noch immer Refugees mit knappem Einkommen und doch nur Ausgestoßene mit Angst vor der Zukunft waren, und sie verdrängte die Wirklichkeit mit beseligender Freude. Sie kam sich vor wie der umschwärmte Backfisch, der bei keinem der Breslauer Studentenbälle auch nur einen Tanz auslassen durfte. Selbst wenn es nur Owuor war, der mit der
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