Nixenfluch
das uns bis zur Hüfte reicht. Das Meer fühlt sich heute gar nicht kalt an. Die Wellen sind frisch und lebendig, schwappen um uns herum, laden uns zum Spielen ein. Faro hebt seine Schwanzflosse und schlägt damit so kraftvoll auf die Wasseroberfläche, dass wir in die Gischt gehüllt werden.
»Guten Morgen, kleine Schwester! Guten Morgen, Conor!« Lächelnd zeigt er uns seine Zähne, die ein kleines bisschen weißer und regelmäßiger sind als dies menschliche Zähne jemals sein könnten.
»Schlag ein!«, sagt Conor und hebt seine Hand. Faro weiß zuerst nicht, was das bedeutet, ist aber begeistert, als Conor es ihm zeigt. Noch mehrmals machen sie High five, und ich könnte wetten, dass Faro es bei nächster Gelegenheit den anderen Mer beibringen wird. Vielleicht wird das in Indigo ja schon bald ein cooles Begrüßungsritual.
Und dann kommt der beste Augenblick von allen. Wir schauen uns an und beschließen wortlos, das es an der Zeit ist. Zeit für Indigo.
Ich mustere die Wellen. Dort ist eine für mich. Ich schätze ihre Höhe ab, als sie sich vor mir auftürmt, und hechte in den kühlen, grünen Hohlraum, der sich unter ihrer Krone auftut.
Die Welle bricht nicht, denn ich bin schon in Indigo, wo die Wellen unablässig kommen und gehen. Ich folge ihr in die Tiefe, durchdringe die grünen und türkisfarbenen Schichten, dem weißen Sand entgegen. Das Wasser über mir gewinnt an Höhe, und plötzlich fällt der Meeresgrund steil ab. Ich befinde mich an der Mündung der Bucht und folge dem fernen Schimmern des Sands nach unten.
Wir sind in Indigo. Conor und Faro sind hinter mir und schwimmen nebeneinander. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Conor sieht nicht so aus, als müsse er kämpfen. Vielleicht hat er inzwischen gelernt, den Sauerstoff ganz entspannt entweichen zu lassen. Er hat eine gesunde Gesichtsfarbe und nicht diese bläuliche Verfärbung um den Mund, die mir so Angst macht, weil sie darauf hinweist, dass er zu wenig Sauerstoff bekommt. Faro hilft ihm natürlich.
Indigo. Indigo. Ich strecke die Arme aus und das Meer kommt mir entgegen. Indigo heißt mich willkommen. Myrgh kerenza. Ich höre die Worte nicht, aber ich fühle sie. Dad hat mich seine myrgh kerenza genannt, seine liebe Tochter, und ich war ihm böse deswegen. Wenn ich dir so lieb bin, warum hast du mich dann verlassen? Warum hast du uns ohne ein Wort der Erklärung im Stich gelassen? Doch ganz gewiss bin ich Indigos Tochter.
Ja, auch Conor geht es heute bestens in Indigo. An Faros Seite gleitet er durch das sprudelnde Wasser, das sich so frisch und quicklebendig anfühlt, als sei auch in Indigo der Frühling ausgebrochen.
»Schließ deine Augen, Sapphire«, fordert Faro mich auf.
»Warum?«
»Es ist eine Überraschung.«
Ich schließe die Augen. Jetzt erst spüre ich, wie schnell wir in der westwärts fließenden Strömung, die Faro für uns ausgesucht hat, unterwegs sind.
»Haltet euch fest!«
Und dann geht’s los. Die Strömung wirbelt uns durcheinander wie Blätter in einem Wasserfall. Nach oben und wieder hinab, so schnell, dass selbst meine Gedanken aus mir herausfliegen und ich nichts anderes mehr spüre als den gewaltigen Wirbel, der mich umgibt. Doch macht er mir keine Angst. Als wäre ich Teil einer Welt, die jenseits aller Vorstellungskraft liegt.
Mit einem Mal wirft uns die Strömung auf den Sand, und ich weiß, dass wir da sind. Ich erinnere mich an diesen Ort. Es sind die Wälder von Aleph, die immer noch verwüstet sind, seit der Gezeitenknoten brach.
Überall liegen Gesteinsbrocken und tote Dinge herum. Doch aus den Trümmern sprießt hier und da frisches Grün. Die Bäume in dieser Tiefe sind doch nicht völlig abgestorben. Und immer mehr Leben kehrt in sie zurück. Die Zerstörung wirkt nicht mehr ganz so schlimm wie damals, als die Gezeiten verrückt gespielt haben. Indigo kann sich selbst heilen, das weiß ich, wenn man ihm nur genug Zeit lässt.
Doch so weit wird es nicht kommen. Das Gefühl des Frühlings ist eine Illusion. Indigo geht dem Winter, nicht dem Sommer entgegen. Die grünen Triebe werden verkümmern. Ein langer schmerzhafter, verlustreicher und dunkler Winter wird sich über Indigo legen wie eine gewaltige Flut. Der Krake ist wach und er ist hungrig. Ervys sagt, dass die Schäden, die wir sehen, nur ein Vorgeschmack auf die Verwüstungen sind, die der Krake anrichten könnte.
Noch nie ist mir Indigo so schön vorgekommen wie heute und noch nie so verletzlich.
»Wie sind wir hierher
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