Nixenfluch
den Felsen sitzen und uns ganz bestimmt nicht vom plötzlich steigenden Wasser überraschen lassen werden.
»In Ordnung«, erwidert Mum. »Dann sehen wir uns, wenn ich von der Arbeit komme. Roger müsste auch so um sechs wieder da sein. Wenn es so schön bleibt wie jetzt, könnten wir heute Abend doch vielleicht ein Barbecue machen.«
Ein Barbecue? So wie Mum »Barbecue« sagt, klingt sie fast so wie Roger, obwohl sie noch nie in Australien war. Roger hat dort seine Kindheit verbracht, und obwohl er schon seit vielen Jahren in England lebt, hört man ihm immer noch seinen australischen Akzent an.
Seine ganze Art ist in gewisser Weise typisch australisch, jedenfalls so, wie die meisten Australier hier wirken. Sehr nüchtern und entspannt und gut in praktischen Dingen. (Wahrscheinlich würde ich mich wundern, wenn ich mal nach Australien reise – auch da muss es doch schlecht gelaunte Typen geben, die nicht mal eine Glühbirne wechseln können.)
Letzten Monat hat Roger einen riesigen Gartengrill aus Edelstahl gekauft, auf dem man ein Weihnachtsmenü für zehn Personen zubereiten könnte. Conor und ich machen am Strand öfter ein Lagerfeuer aus Treibholz, das wir mit losen Steinen umgeben. Eigentlich finde ich unsere Lagerfeuer am besten, aber grillen kann er, unser Super-Aussi (so wird er von Conor genannt).
»Grillen wär schön, Mum«, sagt Conor.
»Wollt ihr Sadie nicht mitnehmen?«, fragt sie.
»Lieber nicht«, antwortet Conor leichthin. »Es ist doch eine ziemliche Klettertour, und ihre Pfote ist immer noch nicht in Ordnung. Da hat sie es besser, wenn sie hierbleibt.«
Sadie hat sich gestern einen Splitter in die Pfote getreten. Ich habe ihn herausgezogen und die Wunde desinfiziert, dennoch macht sie immer noch ein großes Theater, humpelt durch die Gegend und lässt sich bemitleiden.
»Na gut«, sagt Mum. »Passt auf euch auf. Ich frage Roger, ob er ein paar Burger mitbringt.«
Sie lächelt uns an. Plötzlich fällt mir auf, dass sie sich verändert hat. Sie ist nicht mehr so dünn wie zuvor, sieht weniger verhärmt aus. Ihr Gesicht ist runder … fröhlicher …
*
Die Bucht glitzert in der Morgensonne. Der Sand, der eben noch vom Wasser überspült wurde, ist flach und hart. Wir deponieren unsere Turnschuhe sowie die Tasche mit Handtüchern und Ersatzkleidern auf den Felsen hinter der Gezeitenlinie. Dann laufen wir barfuß über den kalten Sand. Ich folge Conors Fußspuren. Wir sind die einzigen Leute hier, und es kommt mir so vor, als wären wir die einzigen Menschen auf der Welt. Kleine Watvögel stolzieren ebenfalls am Strand entlang. Sie betrachten uns neugierig, doch ohne Angst. Tang und Kelpbüschel, schimmernde kleine Muscheln und Plastikschnüre liegen verstreut in der Gegend. Über uns erheben sich die Klippen wie ehrwürdige, graue Dinosaurier. Der Ginster, der darauf wächst, verströmt einen Geruch von Salz, Unkraut und Kokosnuss.
Der ganze wunderschöne Morgen gehört uns. Für einen Moment wünsche ich mir, wir könnten zwei Jahre zurückgehen zu einer Zeit, in der wir noch nichts von Indigo wussten. Damals benutzten wir ein Stück Holz als Schläger und einen mitgebrachten Ball, um am Strand Kricket zu spielen. Schwimmend erkundeten wir die Bucht, und ich malte eine Meerjungfrau in den Sand, mit Haaren aus Seetang und Muschelaugen. Das Leben war so einfach damals, jedenfalls scheint es mir im Rückblick so einfach gewesen zu sein. Aber vielleicht stimmt das auch gar nicht. Ich hasste es beispielsweise, wenn Mum und Dad sich lautstark stritten. Dann zog ich mir die Bettdecke über den Kopf und sang vor mich hin, um mir ihren Streit nicht mit anhören zu müssen.
Aber die Zeit war fortgeschritten und meine letzte Meerjungfrau schon vor zwei Jahren vom Wasser zerstört worden. Jetzt, nachdem ich die Mer kennengelernt habe, würde ich keine mehr aus Sand formen.
Ich bin sicher, dass Faro im leuchtenden Wasser auf uns wartet – und da ist er auch schon. Sobald ich seinen Namen rufe, scheint Indigo mir förmlich entgegenzustürmen. Faros dunkler Kopf lugt an der Mündung der Bucht zwischen den Wellen hervor. Angetrieben von seiner Schwanzflosse schwimmt er uns schneller entgegen als jeder Mensch das könnte. Sein lachendes Gesicht glänzt vom Salzwasser. Es scheint ihm nicht viel auszumachen, die Haut des Meeres durchdrungen zu haben.
»Faro!«
Er hebt eine Hand zum Gruß, schießt durch einen Wellenkamm hindurch und taucht im nächsten Moment neben uns aus dem schäumenden Wasser,
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