Nixenjagd
Freundlichkeit, die in ihrer Wirkung abweisender war, als wenn sie ihn demonstrativ ignoriert hätte. Sein Benehmen von gestern war unmöglich gewesen, das musste er begreifen. Dieses ewige Hü und Hott, so konnte er mit ihr nicht umspringen. Nach der Pause ging Frau Holze-Stöcklein von Tisch zu Tisch und sammelte die Deutsch-Hausarbeiten ein. »Wolltest du nicht über Das Parfum schreiben, Franziska?« »Ja. Aber dann las ich Schuld und Sühne und die Wucht dieses Romans hat mich glatt umgehauen. Ich musste dieses Buch nehmen! Tut mir leid, ich habe vergessen, es Ihnen zu sagen.« Frau Holze-Stöcklein sah Franziska forschend an. Es war eigentlich nicht die Art dieser Schülerin, sie zu veräppeln. »Soso, die Wucht des Romans, na, wir werden sehen«, brummte sie. Franziska hatte währenddessen versucht, ihre Klassenkameraden im Auge zu behalten. Aber falls jemand überrascht oder enttäuscht war, so wusste er oder sie das gut zu verbergen. Das wäre geschafft. Bis ein Uhr hatten sie und ihre Mutter gestern Nacht am Computer gesessen, hatten Sätze gestrichen und umformuliert, dabei leidenschaftlich debattiert. Aber nur über den Stoff. Das Thema Paul war weiträumig umschifft worden, wie ein gefährlicher Eisberg. Die Deutschnote war gerettet, aber Franziska war nicht glücklich damit. Sie hätte lieber die Früchte ihrer eigenen Arbeit geerntet. Es tat ihr leid um ihre Hausarbeit, denn sie hatte sich Mühe gegeben und hatte sie gut gefunden. Nun war sie nur noch erschöpft und gekränkt. Die gestrigen Aufregungen hatten sie doch mehr zermürbt, als sie zuerst geglaubt hatte. Außerdem hatte sie, obwohl sie todmüde gewesen war, sehr schlecht geschlafen – vorsichtshalber bei geschlossenem Fenster. Wenn man von Schlaf überhaupt reden konnte. In der warmen, stickigen Luft hatte sie sich ruhelos hin und her gewälzt und war bei jedem Laut hochgeschreckt. Wie viele Geräusche es nachts in einem Haus gab! Da knackten Dielen, rauschten Leitungen, schlugen Uhren, brummte der Kühlschrank. Franziska wollte heute nur noch ihre Ruhe haben. Sogar von Paul. Auch wenn sie sich eingestehen musste, dass der unbekannte Feigling damit sein Ziel erreicht hatte. Sei’s drum, sagte sie sich. Man muss auch mal zurückstecken können. Am Ende der Stunde lagen auf dem Pult drei große Stapel mit Mappen. Zwei Schüler mussten helfen, sie ins Lehrerzimmer zu tragen. Denkt ja nicht, dass ich vor Weihnachten mit diesem Berg fertig werde«, ließ Frau Holze-Stöcklein vorsichtshalber verlauten. Paul kam zu Franziska und fragte erstaunt: »Schuld und Sühne ? Ich dachte...« »Ich habe meine Meinung geändert«, sagte Franziska und konnte sich nicht verkneifen hinzuzufügen: »Tust du ja auch öfter.« »Wie meinst du das?« »Denk mal nach«, sagte Franziska. Sie kramte demonstrativ in ihrer Schultasche und Paul wandte sich ab.
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»Sie haben ja gar keine Couch hier«, stellte Petra Gerre s fest . »Und Sie? Wo ist Ihre Knarre?«, entgegnete Dr. Jacobi . »Ich wollte Sie nicht erschrecken. « »Ich Sie auch nicht. Deswegen stehen die Couch und der Elektroschocker im Keller. « Petra musste lachen. Der Psychiater grinste . »Ach ja, die alten Vorurteile«, seufzte Dr. Jacobi. »Setzen wi r uns. « Sie ließen sich in die braunlederne Sitzgruppe sinken. Auf de m Tischchen davor standen Tassen, Gläser, eine Kanne Tee un d zwei Flaschen Holunder-Bionade . »Bedienen Sie sich. « »Danke.« Petra schüttete etwas von dem roten Getränk in ei n Glas . »Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Gerres? « »Ich habe gehört, Ihr Spezialgebiet ist die Behandlung traumatisierter Menschen, insbesondere Jugendlicher. « »Das ist richtig«, bestätigte Dr. Jacobi. Er war um die fünfzig , seine etwas nach hinten verrutschte Einstein-Mähne war verdächtig dunkelbraun. Anscheinend waren auch Psychiate r nicht frei von Eitelkeit . Petra schilderte ihm zunächst die Ereignisse und den Stand de r Ermittlungen in den Fällen Katrin Pankau und Solveig Koller . Er hörte aufmerksam, und ohne sie zu unterbrechen, zu . »Es geht um unseren Hauptverdächtigen. Paul Römer. Sie haben sicher Zeitung gelesen. « »Ja. Schrecklich. Eine solche Hatz auf einen Jugendlichen, de r noch nicht einmal überführt ist. « »Das war nicht meine Idee«, erklärte Petra. »Manchmal kan n man sich eben nicht gegen höhere Mächte durchsetzen. Dieser Junge, Paul, hat vor zwei Jahren seinen Vater verloren. Bei dem Mann wurde ein Tumor im Gehirn festgestellt, und innerhalb von
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