Nixenmagier
krank und allein dort liegen zu sehen, und mache einen Schritt nach vorne.
»Nein, Sapphire, bleib zurück. Du kannst ihr jetzt nicht helfen.«
»Ich kann doch nicht hier stehen bleiben und sie sterben lassen!«
»Niemand wird sterben, mein Mädchen. Doch was Sadie jetzt braucht, ist die Kraft der Erde. Siehst du, wie sie die Nähe zur Erde sucht? Hast du schon mal gesehen, wie eine Mutter ihr Baby an sich drückt, wenn es krank ist?«
»Nein.«
»Heutzutage lernen alle so viel in der Schule, dass sie am Ende gar nichts wissen. Aber Sadie weiß Bescheid.«
»Ich wollte sie zu Ihrem Haus bringen, doch der Weg war zu weit. Sadie konnte nicht mehr weiterlaufen.«
»Lass ihr Zeit. Sie wird sich erholen.«
Eine Weile sieht es so aus, als würde Granny Carne nichts tun. Sie rührt sich nicht von der Stelle, sieht Sadie unverwandt an, überwacht jeden ihrer Atemzüge. Plötzlich höre ich ein leises, zirpendes Flöten. Vielleicht einer der Spatzen im Busch. Doch als sich das Flöten wiederholt, eindringlicher und lieblicher als zuvor, weiß ich, dass es nicht von einem Spatz stammt, sondern von Granny Carne. Der Laut entweicht ihren Lippen und ist für Sadie bestimmt. Das Flöten wird immer lauter. Ein Schauer geht durch Sadies schlaffen Körper, gefolgt von einem zweiten. Sie beginnt so stark zu zittern, als sei ihr plötzlich klar geworden, dass sie jeden Moment erfrieren könnte. Das Flöten Granny Carnes schwillt an, bis es in meinen Ohren schrillt. Ein weiteres Beben, von der Nase bis zur Schwanzspitze, erfasst Sadies Körper, der plötzlich anders aussieht. Weniger zusammengesunken. Ein Ohr stellt sich auf, als würde sie lauschen. Ihr Schwanz schlägt matt auf das Gras. Langsam, mit großer Mühe, öffnet sie erneut ihre Augen, und diesmal begegnen sie dem Blick Granny Carnes. Ein kurzes, vertrautes Aufleuchten, dann fallen sie wieder zu.
»Sadie!«
»Sie wird es schaffen«, sagt Granny Carne. »Gib ihr Zeit.«
»Geht es ihr besser?«
»Das wird lange dauern«, antwortet Granny Carne ernst. »Ihr Geist hat sich von uns entfernt. Sie war auf einer langen, kalten Reise.«
»Wo war sie?«
»Indigo hat sie in Angst und Schrecken versetzt. Ihr Geist schrak davor zurück. Als würde man Wasser in ein Feuer gießen. Das ist keine normale Krankheit, Sapphire. Ich glaube, du weißt das. Indigo ist ihr zu nahe gekommen. Ein Wesen der Erde wie Sadie kann dort nicht überleben.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich mache dir keine Vorwürfe, mein Mädchen. Aber sieh dich an. Dein ganzer Körper ist von Indigo durchtränkt. Erzähl mir nicht, du wärst nicht dort gewesen. Erzähl mir nicht, Indigos Musik wäre nicht wieder an deine Ohren gedrungen. Und wohin du auch gehst, Sadie muss dir folgen, denn sie gehört zu dir.«
»Aber ich habe sie nicht mitgenommen. Ich habe sie auf der obersten Treppenstufe zurückgelassen.«
»Das ist für einen Hund wie Sadie kein Schutz. Sie ist dir mit ihrem Herzen gefolgt. Sie ging in deinen Fußspuren, bis sie keinen Halt mehr fand. Ihr wäre vor Angst um dich beinahe das Herz gebrochen.«
Sadie versucht aufzustehen. Ich will ihr helfen.
»Nein, Sapphire, lass sie es allein versuchen. In ein paar Minuten wird sie in der Lage sein, uns nach Hause zu begleiten. «
Ich stelle keine Fragen mehr. Um die Wahrheit zu sagen, macht mir Granny Carne heute ein wenig Angst. Sie weiß zu viel. Sie verleitet mich zu Gedanken, die mir unangenehm sind. Ich weiß, dass sich jeder mit seinen persönlichen Problemen an sie wendet, doch vielleicht sind nicht immer alle mit ihren Antworten zufrieden. Sie lässt mich Sadie nicht berühren. Sie kann doch nicht glauben, dass ich Sadie jemals wehgetan habe.
»Ja, sie ist auf einer langen Reise gewesen«, wiederholt Granny Carne. »Hast du schon mal einen Mann gesehen, der fast erfroren wäre, nachdem er sich stundenlang im Wasser an ein Stück Treibholz geklammert hat? Den setzt man auch nicht gleich ans Feuer. Man sorgt dafür, dass er sich allmählich aufwärmt, damit sein Körper es verkraften kann. Sadie wird zum Leben zurückkehren, aber sie braucht Zeit. Sie braucht die Erde um sich herum, Sapphire. In ihrem jetzigen Zustand ist der Atem von Indigo zu stark für sie.
Wie geht es eigentlich Conor?«, fährt sie fort, während wir langsam den Pfad hinaufgehen. Sadie setzt ihre Pfoten so vorsichtig auf den Boden, als fürchte sie jeden Moment einzuknicken.
»Dem geht’s gut.«
»Er fühlt sich wohl in St. Pirans?«
»Ich weiß es nicht.
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