Nixenmagier
und lassen den Bauernhof am Ende der Stadt sowie die Querstraße, wo der Schulbus immer links abbiegt, hinter uns. Der Bus schwenkt nach rechts auf eine Landstraße, die durch das Moor von Senara führt. Die Hügel sind in fahles Winterlicht getaucht. Vor uns öffnet sich eine wunderschöne Landschaft. Ich atme tief durch und empfinde ein Gefühl der Freiheit. Keine Menschenmengen, keine überfüllten Gassen. Nur eine enge, graue Straße, die sich durch diese urwüchsige Landschaft meiner Heimat entgegenschlängelt.
Viertes Kapitel
A ls sich der alte blaue Bus in der Entfernung verliert, Sadie und mich am Straßenrand zurücklassend, wird mir auf einmal bewusst, was ich getan habe. Dies ist die letzte Haltestelle vor Senara Churchtown . Von hier aus gelangt man am schnellsten zum Haus von Granny Carne. Andere Häuser gibt es nicht, nur die Straße und die mit Adlerfarn, Stechginster und Heidekraut bewachsenen Hügel. Ein breiter schwarzer Pfad, Hinterlassenschaft eines Feuers, zieht sich wie eine Narbe durch die Hügel.
Kein Mensch weit und breit. Die Straße ist grau und leer. Aber das wollte ich ja – oder nicht? Ich wollte kein bekanntes Gesicht sehen. Wenn ich ein Stück weit die Straße entlanggehe, gelange ich zu einem Trampelpfad, der zu Granny Carnes Haus führt.
»Komm, Sadie, es ist nicht mehr weit!«, sage ich aufmunternd. Doch diesmal ignoriert Sadie meine Stimme. Sie lässt sich auf den struppigen Grasstreifen sinken, der sich zwischen Straße und Graben befindet, legt ihren Kopf zwischen die Vorderpfoten und schließt die Augen.
»Sadie!«
Sehr langsam, als bereite es ihr unendliche Mühe, öffnet sie ihre Augen. Sie starren mich ausdruckslos an und scheinen mich nicht zu erkennen. Dann fallen die Lider wieder zu.
Panik durchzuckt mich wie ein elektrischer Schock. Ich glaube, sie ist tot. Ich werfe mich neben sie auf das Gras und presse meine Ohren an ihr Fell. Völlige Stille. Sie ist gestorben. Das ist so grauenhaft, dass ich unfähig bin, mich zu bewegen oder irgendeinen Laut von mir zu geben. Dann spüre ich, wie die Rippen unter ihrem Fell langsam in Bewegung geraten. Ein kümmerliches Röcheln dringt aus ihrer Kehle, als würde sie durch Stacheldraht hindurchatmen. Sie lebt.
Es ist alles meine Schuld. Ich hätte sie niemals den Geevor Hill hinaufzerren dürfen. Jetzt kann sie kaum noch atmen, geschweige denn gehen. Was soll ich nur tun? Ich hebe verzweifelt den Kopf und blicke die Straße hinunter. Niemand zu sehen. Ein Spatz schlüpft aus einem Ginsterstrauch, dreht mir seinen Kopf zu und springt dann weiter.
»Sadie!« Ich versuche, sie auf meinen Schoß zu heben. Ihr Körper ist schlaff und schwer und kaum zu bewegen. Aber er ist warm. Sie lebt. »Halt aus, Sadie! Ich hole Hilfe für dich. Bitte, bitte, du darfst nicht sterben.«
Aber wie soll ich Hilfe holen? Hätte ich doch nur ein Handy dabei. Doch selbst ein Handy würde mir nichts nützen. Alle Einwohner von Senara beklagen sich darüber, dass hier kein Netzempfang ist. Telefonzelle . Unten bei der Kirche steht eine Telefonzelle. Wie lange brauche ich dorthin, wenn ich laufe? Vielleicht zehn Minuten, dann der Anruf, und dann zehn Minuten wieder zurück – das ist zu lang.
Wenn ich Sadie jetzt zurücklasse, wird sie sich erneut im Stich gelassen fühlen und aufgeben.
»Oh, Sadie, es tut mir so schrecklich leid.« Ich nehme sie fest in den Arm, versuche, ihr neues Leben einzuflößen. Sie
darf doch nicht sterben, einfach so. Gestern war sie noch kerngesund und quicklebendig.
So beruhigend und sanft, wie ich nur kann, streichle ich ihren Kopf. »Halte durch! Alles wird wieder gut!« Doch zum allerersten Mal weicht sie meiner Hand aus. Mit letzter Kraft versucht sie, von meinem Schoß herunterzukrabbeln.
»Steh auf, Sapphire! Geh beiseite! Lass ihr Platz zum Atmen!«, sagt eine Stimme hinter mir.
»Granny Carne!« Meine Stimme überschlägt sich fast vor Erleichterung. Granny Carne wird wissen, was zu tun ist, besser als jeder Tierarzt. »Bitte helfen Sie mir! Ich wollte zu Ihnen. Sadie ist schwer krank. Ich glaube, sie muss sterben …«
»Sag dieses Wort nicht in ihrer Gegenwart. Du wirst sie zu Tode erschrecken. Tritt zurück und lass mich sie ansehen. «
Widerstrebend lasse ich Sadie los und setze sie zurück in das kalte Gras. Granny Carne steht unbeweglich da und blickt auf Sadie herab. Mehr als je zuvor wirkt sie wie ein riesiger Baum, der Sadie schützt. Ihre wilden Augen funkeln. Ich ertrage es nicht, Sadie so
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