Nobels Testament
Passwort anfordern.
Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Fenster, sie rieb sich den Schlaf aus den Augen, beugte sich vor und las.
Um ein neues Passwort zu erhalten, müssen Sie auf Ihre geheime Frage antworten:
Wie hieß die erste Schule, die Sie besuchten?
Wie hieß Caroline von Behrings erste Schule?
Sie hob den Hörer ab und rief noch einmal bei Birgitta Larsén an. Inzwischen hatte sich der Zustand der Professorin wieder normalisiert, und sie ging sofort dran.
»Caros erste Schule? Es gab nur eine. Die französische natürlich. Caroline war unheilbar frankophil, ein echter Snob, wenn Sie mich fragen. Was machen Sie denn nun?«
»Erzähle ich später«, sagte Annika und legte auf.
Sie tippte »französische Schule« ein.
Ein neues Fenster öffnete sich.
Geben Sie das neue Passwort ein.
Wiederholen Sie das neue Passwort.
Annika wählte
alfred.
Der Bildschirm wurde heller.
Willkommen, Caroline!
Sie rang nach Luft. Caroline hatte eine E-Mail-Adresse im Internet, und sie war drin!
Rasch überflog sie die Seite. Sie sah aus wie jede andere Begrüßungsseite eines Mailprogramms.
Sie
haben 1 angelesene Nachricht.
Auf der linken Seite befand sich eine Leiste der üblichen Ordner. Posteingang, Entwürfe, Gesendet, Papierkorb. Im Posteingang lag die Mail, die sie geschickt hatte,
Test.
Darunter befand sich halbfett markiert eine Rubrik
Eigene Ordner
mit einem Symbol, einem Unterordner, der
Archiv
hieß.
Annika klickte ihn an und spürte, wie ihr Puls schneller ging.
Sechs Dokumente, gesendet von Caroline von Behring an Andrietta Ahlsell. Die Betreffzeilen lauteten:
Im Schatten des Todes, Der Preis der Liebe, Die größte Angst, Enttäuschungen, Nobels Testament
und
Alfred Bernhard.
Annika öffnete die Dokumente der Reihe nach. Ihre Enttäuschung wuchs mit jedem Text. Das waren keine Geheimnisse. Das waren kleine Abrisse über Caroline von Behrings Held, kurze, tragische Bemerkungen über Alfred Nobels Leben und Sterben.
Sie fuhr mit der Maus über das sechste und letzte Dokument, atmete zweimal ein und aus und öffnete es mit einem Doppelklick.
Der Text war im September des Vorjahres geschrieben worden, drei Monate vor Carolines Tod.
Je weiter Annika kam, umso langsamer las sie.
@ Betreff: Alfred Bernhard
Empfänger: Andrietta Ahlseil
So heißt er, Alfred Bernhard, genau wie sein Namensvetter, wie Nobel, sein Nachname jedoch lautet Thorell. Wenn er den Raum betrat, ging die Sonne auf.
Eine Vorlesung mit Bernhard Thorell in der Zuhörerschaft war immer ein bisschen
magisch,
eigenartig schimmernd, nie langweilig. Mit Bernhard in der Nähe wurde ich so vital, so interessant und spirituell, meine Analysen und Ergebnisse so funkelnd hell. Andere Menschen wurden in seiner Gegenwart verlegen, andere völlig nervös.
Ich habe sie verachtet.
Nicht, dass ich verliebt gewesen wäre (so würde ich meinen Zustand nicht beschreiben), eher geschmeichelt oder vielleicht fasziniert. Er hatte die Gabe, Menschen zu beeinflussen, und hätte er nur ein wenig härter studiert, wäre aus ihm ein hervorragender Arzt geworden. Doch er wählte die Forscherlaufbahn. Ich bildete mir ein, er täte es um meinetwillen.
Um meinetwillen!
So wirkte er auf Menschen, wir fühlten uns auserwählt, die ganze graue Masse.
Er sprach mich an, fragte, ob in meiner Forschungsgruppe eine Doktorandenstelle frei sei, und ich war so verzückt, dass ich ganz außer mir war: Er wollte mit mir zusammenarbeiten, an meinem Projekt. Sein Wunsch war die Bestätigung meiner eigenen Brillanz, meiner pädagogischen und wissenschaftlichen Überlegenheit. Dass die Wahl seiner Karriere lediglich die Folge seiner schlechten Studienergebnisse war, kam mir nicht in den Sinn. Caroline, Caroline, wie naiv warst du?
Als die ersten Doktoranden zu mir kamen, um sich zu beschweren, wies ich sie ab. Eine von ihnen, eine junge Frau aus der Tschechoslowakei, die für eine Doktorandenstelle bei uns ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, warf ich hinaus. Noch heute brennt mein Gesicht beim Gedanken daran. Sie hieß Katerina und war klein und dunkel. Sie hatte ihren Mann und ihre kleine Tochter als Unterpfand im Heimatland zurückgelassen, um am KI forschen zu können (das war, bevor der Eiserne Vorhang fiel). Nicht selten weinte sie vor Sehnsucht nach ihnen in ihre Reagenzgläser. Sie stand vor mir, rang die Hände, und klagte Bernhard der merkwürdigsten Vergehen an. Er habe sich ihr auf unsittliche Weise genähert, sie habe sich entzogen und vorsichtig davon
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