Noch ein Kuss
gesenkten Kopf. Ihre Augen ließen tief in ihre Seele blicken. Schmerz, Wut, Verletzlichkeit, Trauer … und unzählige andere Emotionen, die Mike nicht benennen konnte, spiegelten sich in den dunklen Tiefen.
»Könntest du mir einen Gefallen tun?«, fragte sie mit sanfter Stimme.
»Gern.« Er kam zwei Schritte auf sie zu.
»Hau ab und lass mich in Ruhe.«
Juliette nahm gegenüber von Carly in einem kleinen Restaurant an der Madison Avenue Platz. »Du hättest deine Kolumne auch faxen oder im Büro vorbeibringen können.« Sie sah sich nach dem Angebot an Backwaren um – Muffins, Brote und Scones. »Aber natürlich verabrede ich mich viel lieber zum Essen. Ich sterbe vor Hunger.«
Sie schüttelte die grüne Leinenserviette aus und legte sie auf ihren Schoß. »Orange-Pekoe-Tee, bitte«, sagte sie zu der vorbeieilenden Kellnerin.
Die junge Bedienung blieb an ihrem Tisch stehen. »Für Sie auch etwas?«, fragte sie an Carly gewandt.
»Einen Kaffee, bitte.«
»Nein, Kamillentee«, mischte Juliette sich ein und beugte sich über den Tisch. »Deine Hände zittern. Das Letzte, was du jetzt brauchen kannst, ist Koffein.«
Achselzuckend sah Carly die Kellnerin an. »Dann eben Kamillentee.« Schließlich war sie nicht gekommen, um mit Juliette Kaffee zu trinken, sondern weil sie einen mütterlichen Rat und vielleicht auch eine aufmunternde Umarmung brauchte.
Die Kellnerin steckte ihren Notizblock wieder ein und ging weiter.
Juliette kniff die Augen zusammen. »Was ist los? So brav kenne ich dich ja gar nicht.«
»Warum tut eigentlich jeder so, als wäre ich ein Schoßhündchen? Ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Heute Morgen habe ich sogar einen neuen Lidschatten aufgelegt«, sagte Carly in trotzigem Tonfall.
»Ich habe damit nur gemeint, dass noch nie erlebt habe, dass du zu allem Ja und Amen sagst.«
Carly seufzte. »Weil es bei uns um die Arbeit geht.«
»Und du machst deine Sache verdammt gut. Während ich also meine, dass etwas nicht stimmt, weil du nicht so selbstbewusst bist wie sonst, hat offenbar einen anderen Eindruck von dir.« Juliette lehnte sich zurück, damit die Kellnerin ihre Tassen, die ausgewählten Teesorten und heißes Wasser abstellen konnte. »Wer ist es?«
Nie im Leben hatte Carly sich so verzweifelt danach gesehnt, sich aussprechen zu können. Und sie hoffte sehr, dass Juliette ruhig zuhörte und ihr dann den nötigen Trost spendete. »Er heißt Mike«, sagte sie leise. »Mike Novack.«
»Peters … «
»Bruder«, sprach Carly es für sie aus.
»Großer Gott, wenn du dich in die Bredouille bringst, dann aber richtig.«
»Dabei weißt du noch nicht mal die Hälfte.« Carly holte tief Luft. »Jules , ich glaube, ich kann Peter nicht heiraten«, wisperte sie. Dann griff sie, um sich zu beschäftigen, mit zitternden Händen nach dem Teebeutel und hängte ihn in das heiße Wasser.
Ihre Freundin stützte das Kinn in die Hände. »Erzähl. Ehe ich nicht gehört habe, was dir durch den Kopf geht, möchte ich dich weder in die eine noch in die andere Richtung beeinflussen. Red weiter.«
»Es ist schwer zu erklären. Es ist, als wäre ich bisher wie im Traum durchs Leben gegangen, und nun hätten sich mir die Augen geöffnet. Ich etwas.«
Juliette nickte. »Und das jagt dir eine Heidenangst ein.«
»Das ist noch milde ausgedrückt.« Was Mike für sie und mit ihr machte, erinnerte sie an all jene Dinge, denen sie schon früh im Leben abgeschworen hatte. Ihr Vater hatte ihre Illusionen, ihre perfekte Familie und, schlimmer noch, ein anderes menschliches Wesen zerstört. Wenn es das war, was bei der so genannten leidenschaftlichen Liebe herauskam, konnte sie darauf verzichten.
Aber sie konnte sich auch nicht länger vormachen, dass sie die perfekte Partnerin für Peter war. Nicht mehr. Eigentlich konnte sie nicht einmal mehr glauben, dass sie sich selbst eingeredet hatte, sie sei es. Sie hatte doch mitbekommen, wie ihre Mutter sich in ihrer Ehe verbogen hatte, und sie im Stillen jahrelang dafür verdammt. Trotzdem hatte sie sich in dem Bemühen, sich vom Benehmen ihres Vaters zu distanzieren, irgendwie davon überzeugt, dass sie mit einem derart langweiligen Leben glücklich werden würde.
Dank Mike wusste sie es nun besser. In dieser Hinsicht waren seine Beobachtungen korrekt gewesen. »Mike macht mir Angst«, gab sie zu. »Aber darum geht es nicht.«
Skeptisch zog Juliette eine Augenbraue in die Höhe. »Also gut. Peters Bruder kommt aus … «
»Übersee.«
»… bringt dich
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