Noch ein Kuss
… « Er zögerte. Wie schaffte man es, nicht mit den Sünden seines Bruders in Verbindung gebracht zu werden? Und hatte er überhaupt ein Recht dazu, wenn man bedachte, dass sein Engagement zwar gut gemeint, aber nicht langfristig war?
Roger stand auf und trat ihm in der Mitte des großen Raumes entgegen. »Ich werde Sie nicht nach Ihrem Bruder beurteilen. Und falls er es Ihnen noch nicht gesagt hat; ich werde auch Peters Arbeit nicht danach beurteilen, wie er Carly behandelt hat.«
»Ich habe noch nicht wieder mit Pete gesprochen.« Mike hatte die Wohnung jeden Morgen früh verlassen und war erst spätabends zurückgekehrt. Solange er sich nicht damit abgefunden hatte, was aus seinem Bruder geworden war, wollte er sich nicht mit ihm befassen. Zumindest noch nicht.
»Nun ja, ich hatte fest vor, ihn rauszuwerfen, verdammt. Doch dann hat Carly mich gebeten, das Geschäftliche nicht mit ihrem Privatleben zu vermengen.«
Mikes Überraschung hielt sich in Grenzen. Carly war einfach zu gut für diese Welt. Er hielt Rogers nachdenklicher Musterung stand.
»Er wird hart arbeiten müssen, um Sozius zu bleiben. Und ob es richtig ist oder nicht, ich werde ihm auf die Finger sehen. Ein kleiner Fehler und ich tue alles, was in meiner Macht steht, damit ihm die Teilhaberschaft wieder genommen wird.«
Carlys Vater stieß einen Seufzer aus, der seit Jahren überfällig zu sein schien. »Was ich auch getan haben mag, ich liebe meine Tochter.«
»Das glaube ich Ihnen, Sir.«
Roger nickte. »Zurück zu Ihnen. Sie sind ihr gestern Abend gefolgt. Geht es ihr gut?«
Von Carly selbst hatte er offensichtlich nichts gehört. Der Gedanke stimmte Mike traurig. Und irgendetwas an Rogers Tonfall hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Ihn richtiggehend berührt. Er hätte wetten mögen, dass es Carlys Vater nicht leichtgefallen war, diese Frage zu stellen.
»So gut wie möglich«, erwiderte Mike. »Sie ist sehr gekränkt. Und sie fühlt sich verraten.« Er schüttelte den Kopf.
»Das ist ihr leider schon viel zu oft passiert.«
»Davon hat sie nichts erzählt, Sir.« Carlys Vater sollte wissen, dass seine Tochter die Familiengeheimnisse für sich behalten hatte.
Roger Wexler ging zu einer Reihe von Fotos, die auf seinem Schreibtisch standen. Dann griff er nach einem, das in einem kleinen Silberrahmen steckte, und betrachtete es mit gerunzelter Stirn. »Verdammt viel zu oft«, murmelte er.
Mike wusste nicht, was er sagen sollte. Um eine Erklärung zu bitten, wäre ihm aufdringlich vorgekommen. Auch wenn er jetzt begriff, dass die Person, die Carly so tief verletzt hatte, ihr Vater gewesen war.
»Darf ich?« Mike streckte eine Hand nach dem Foto aus.
Roger nickte. In dem kleinen Rahmen steckte ein Familienfoto, das eine jüngere Carly mit ihren Eltern zeigte. Mike schätzte sie auf ungefähr dreizehn oder vierzehn.
Da er ein Familienleben dieser Art nicht kannte, war die Dynamik in einer solchen Konstellation ungewohntes Terrain für ihn. Doch seine Erfahrung als Fotograf hatte ihn gelehrt, ein Bild anhand der Körpersprache der Abgebildeten zu beurteilen. Vor der Kulisse eines Strandhauses am Ozean stand Roger mit hängenden Schultern. Seine Frau, die einen Arm um seine Taille geschlungen und die andere Hand auf die Schulter ihrer Tochter gelegt hatte, stand leicht von ihm abgewandt. Carly lächelte in die Kamera, doch ihre ausdrucksvollen Augen verrieten, dass sie innerlich unglücklich war. Dieses Foto zeigte genau die Familie, die er vor ein paar Tagen beim Abendessen gesehen hatte. Hatten diese Menschen auch einmal anders zueinander gestanden?
»Hübsch«, sagte er und gab das Foto an Roger zurück.
Carlys Vater schüttelte den Kopf. »Manche Dinge im Leben kann man nicht mehr rückgängig machen«, flüsterte er, offensichtlich in einer anderen Zeit gefangen. Dann räusperte er sich. »Tja. Sie sagten, Sie brauchen eine Bleibe in den Hamptons?«
. »Ja. Ich dachte, Sie kennen sich in der Gegend aus. Irgendein Hotel oder Motel. Nichts Besonderes.«
Mit schmalen Augen betrachtete Roger ihn stumm. Dann sagte er endlich: »Okay.« Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm einen Zettel aus einem Kasten aus Acrylglas, ergriff einen Kuli und begann zu schreiben. »Das ist eine Liste mit preiswerten Hotels und Motels in der Nähe des Strandes.«
Dankbar griff Mike über den Tisch, nahm den Zettel entgegen und rieb ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich weiß das zu schätzen.«
»Gut, denn es gibt etwas, was Sie für mich tun
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