Noch ein Kuss
rief sie in Richtung Haustür.
Sie fischte zwei Aspirin aus ihrer Handtasche und spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter, dann ging sie nach vorn. Nur weil ihre Mutter sich dazu entschlossen hatte, ihre Ehe fortzusetzen, musste Carly es doch nicht genauso machen. Ihr ganzes Leben lang war sie auf einem schmalen Grat gewandelt, voller Angst, die Fehler ihrer Eltern zu wiederholen – wie ihr Vater nach mehr Liebe und Leidenschaft zu suchen oder wie ihre Mutter alle Hindernisse auf ihrem Weg ungerührt hinzunehmen. Und da die Fehler ihres Vaters so viel mehr Schaden angerichtet hatten, war sie, so unglaublich es klang, kurz davor gewesen, sich in ein Abbild ihrer Mutter zu verwandeln.
Gleichzeitig war sie nach wie vor entsetzt darüber, dass sie sich beinah wie ihr Vater aufgeführt hatte – der letzte Zwischenfall mit Mike bewies, wie dicht davor sie gewesen war –, aber trotz allem, an irgendeinem Punkt hatte sie sich selbst und das, was vom Leben erwartete, aus den Augen verloren. Auch das musste sie ergründen. Da das Schuljahr hinter ihr lag und der Sommer vor ihr, konnte sie sich ganz auf sich selbst konzentrieren.
Wieder läutete es, und Carly eilte in den kleinen Eingangsflur. Von dort führte eine lange Treppe in die obere Etage des Hauses. Hastig riss sie die Tür auf.
»Könnte ich mir eine Tasse Zucker ausborgen? Meiner ist aus.«
»Oh nein.«
Mike grinste breit. »Doch. Also, hast du Zucker für mich, meine Süße?«
»Konntest du dir nicht etwas Originelleres einfallen lassen?«, fragte Carly.
»Hätte ich mich besser als Avon-Beraterin ausgeben sollen?« Er kam zwei Schritte auf sie zu.
Carly zwang sich stehenzubleiben. Ein Zurückweichen hätte ihm zu deutlich gezeigt, welche Wirkung er auf sie hatte. Als ob es nach ihrer überaus begeisterten Reaktion beim letzten Zusammentreffen noch irgendwelche Zweifel daran gäbe, dachte sie, während ihre Wangen bei der Erinnerung knallrot anliefen.
Sie schüttelte den Kopf. »Versuch es nochmal.«
»Wie wär’s damit?« Er machte zwei weitere Schritte auf sie zu und drückte seine warmen Lippen auf ihre, küsste sie mit einer solchen Kunstfertigkeit und Perfektion, dass sie sich wunderte, warum ihre Knie nicht nachgaben. Alles, was sie tun konnte, war, sich an seinen Schultern festzuhalten.
Das war der Kuss, den sie zeit ihres Lebens ersehnt und vermisst hatte. Nur dass er viel zu kurz war. Denn Mike ließ sie mit einem gequälten Stöhnen wieder los, obwohl seine goldenen Augen vor Verlangen glühten.
Carly wischte sich die Ponyfransen aus den Augen und stieß die Luft aus. Dabei entschlüpfte ihr ein frustrierter Seufzer. Es sah ganz danach aus, als würde der Plan, sich ungestört mit sich selbst zu beschäftigen, sich drastisch ändern. »Was führt dich denn hierher?«, fragte sie. Egal, wie er sie gefunden hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie das wissen wollte.
Mike zuckte die Achseln und ging an ihr vorbei ins Foyer.
»Ich höre?«
»Es gibt zwei Antworten darauf: die Arbeit und du.«
Carly kniff die Augen zusammen. »Erklär mir den Teil mit der Arbeit.«
Sie führte Mike in die Küche, wo er einen Stuhl umdrehte und rittlings Platz darauf nahm. Er hatte kräftige Beine, konstatierte Carly, ehe sie den Blick auf sein Gesicht richtete. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl ihm gegenüber.
»Ich soll eine Reihe von Fotos für eine Sonderbeilage über Sommerurlaubsorte machen«, erwiderte Mike.
»Ah ja. Ein Mann, der auf lebensgefährliche Reisen steht, fährt urplötzlich in die Hamptons. In der Hoffnung, die unvermeidlichen Taschendiebe am Strand abzulichten?«
»Wie sarkastisch du sein kannst«, sagte Mike grinsend.
»Dann versuch es mal mit der Wahrheit.« Carly stand auf, ging zum Kühlschrank, nahm eine Dose heraus und öffnete sie. »Cola?« Obwohl sie die eingefleischte Höflichkeit, die sie dazu trieb, dabei verfluchte, bot sie Mike etwas zu trinken an. Lieber hätte sie ihn vor die Tür gesetzt, ehe er sie wieder mit seinem Charme einwickelte. Aber das gut erzogene Mädchen in ihr wusste nicht, wie es das anstellen sollte.
Mike schüttelte den Kopf.
Also nahm Carly selbst einen großen Schluck.
»Ich bin tatsächlich hier, um zu arbeiten. Und um dich zu sehen«, gestand er.
Die Kohlensäure brannte in Carlys Hals und trieb ihr Tränen in die Augen.
»Um sicherzugehen, dass du einen Freund hast, wenn du einen brauchst – oder eine Schulter zum Ausweinen, wenn es so weit kommen sollte.«
Carly hustete und wischte
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