Noch ein Kuss
stemmte sie sich hoch und rollte auf die Seite.
So schwer es ihm auch fiel, Mike ließ es geschehen. Es gab immer noch vieles, was er nicht an ihr verstand, aber dass sie Angst hatte, merkte er deutlich. Die extreme Anziehungskraft zwischen ihnen veranlasste sie, auf Distanz zu gehen – warum auch immer. Mike spürte, dass er sie nur auf eine Weise beruhigen konnte, indem er ihr bewies, dass diese Kraft beherrschbar war. Leichter gesagt als getan, dachte er. Er atmete tief ein und aus und versuchte, sich auf das Rauschen der Wellen zu konzentrieren statt auf Carlys keuchenden Atem. Obwohl er bewies, dass sie ihn genauso begehrte.
Schweigend lagen sie auf dem Rücken und starrten in den weiten Himmel. Weiße Schäfchenwolken sprenkelten die ansonsten leere blaue Fläche.
»Wunderschön«, murmelte Carly.
Mike sah sie an. »Find ich auch.«
»Mike?«
»Hmm?«
»Wie ist es an den Krisenherden dieser Welt?«
Mike erstarrte. Die Wahl des Gesprächsthemas überraschte ihn, aber er wollte Carly nicht anlügen. »Aufregend.«
»Und gefährlich?«, fragte sie. Denn wenn sie sich Mike mitten in einem vom Krieg zerrissenen Land oder etwas noch Schlimmeres vorstellte, überlief sie eine Gänsehaut.
»Manchmal.«
Carly fragte sich, wie es sich anfühlte zu wissen, dass er sich in Gefahr begab, ohne eine Ahnung zu haben, ob er lebend und in einem Stück nachhause kommen würde. Dabei wurde ihr so kalt, dass sie schauderte. Mike zog sie an sich, wohl weil er die Auswirkungen ihrer heftigen Gefühle für eine Reaktion auf die kühle Meeresbrise hielt.
Den Kopf auf seine Schulter gebettet genoss Carly die Nähe, die sich auf emotionaler Ebene eingestellt hatte. »Warum machst du das?«, fragte sie.
»Jedenfalls nicht wegen des Ruhms oder des Kicks, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, obwohl es ein paar Kollegen gibt, bei denen das so ist.« Mikes warmer Atem streifte ihr Haar. »Ich bin nicht ganz sicher, aber mir gefällt es zu wissen, dass ich mit meiner Arbeit etwas verändern kann. Dass eins meiner Fotos vielleicht irgendjemanden irgendwo davor bewahrt, zu verhungern oder getötet zu werden.«
Er wollte also helfen. Ob ihm bewusst war, wie ähnlich seine Ziele den ihren waren? »Mit meiner Kolumne mache ich fast das Gleiche.«
»Wieso?«
Carly hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte. »Es gibt so viele Kinder, die niemanden zum Reden haben. Ich hoffe, dass wenigstens eins davon es schafft, eine gute Entscheidung zu treffen, weil jemand sich die Zeit genommen hat zuzuhören.«
In der schlimmsten Phase ihres Lebens war für sie jedenfalls niemand da gewesen. Keiner hatte auf sie geachtet. Ihre Mutter hatte sich strikt geweigert, über die Tragödie und deren Auswirkungen auf das Familienleben zu sprechen, sodass die halbwüchsige Tochter sich selbst überlassen blieb. Auch an ihren offensichtlich deprimierten Vater hatte Carly sich nicht wenden können, und davon abgesehen hätte ihre Wut es ihr auch nicht erlaubt. Sie hoffte, dass irgendein Teenager ihre Kolumne nutzte, um die Gefühle zuzulassen, die er zuhause nicht zu zeigen wagte.
»Wir beide geben ja ein feines Paar ab.« Mike lachte in sich hinein. »Man könnte fast meinen, wir hielten uns für Schutzengel.«
»Ich bin kein Engel. Ich sorge nur dafür, dass die Kinder, die ich anspreche, nicht meinen, sie müssten allein mit allem fertigwerden.«
»So wie du?«
Carly setzte sich auf und starrte Mike an. Am liebsten hätte sie ihn angebrüllt. . »Wie … «
»Gut geraten, was?«
Offenbar war sie leicht zu durchschauen. Mike wischte Sandkörner von ihrem Rücken. Nach diesem Zwischenspiel musste sie wohl noch einmal unter die Dusche gehen. Nicht bereit, das Thema fallen zu lassen, ehe sie in Erfahrung gebracht hatte, was sie von ihm wissen wollte, sah sie Mike unverwandt an. »Also warum spielst du den guten Samariter?« Trug er womöglich ebenfalls ein dunkles Geheimnis mit sich herum?
»Das habe ich dir doch schon erzählt. Wenn man in der Jugend etwas vermisst hat, neigt man später dazu, alles zu tun, um das nicht noch einmal zu erleben. Peters Verhalten hat es ja sehr deutlich gezeigt.«
Als der Name ihres Exverlobten fiel, rechnete Carly damit, dass der Schmerz über seinen Betrug sie wieder überfiel. Doch nichts geschah, was sie erfreut und erleichtert registrierte. »Inwiefern?«, fragte sie.
»Er glaubt, dass Geld und Macht ihn für alles entschädigen werden, was ihm gefehlt hat. Er begreift nicht, dass
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