Noch immer schwelt die Glut
Ein Anblick, der mich seltsam berührte, ja mich geradezu enttäuschte, hatte ich doch geglaubt, mein einstiger Lehrmeister an der Ecole de Médecine sei über menschliche Emotionen erhaben, sowohl kraft seiner Gelehrtheit als auch seiner kühlen Geistesschärfe. Leider, Leser, weiß ich es mittlerweile besser: Auch jene, die wir, Halbgöttern gleich, als die Helden unserer Jugend verehrten, steigen manchmal vom Piedestal herab und weinen vor Schmerz über Undank oder Verrat eines Freundes, der ihnen um so grausamere Schläge beibringt, je näher er ihrem Herzen steht.
Das Schweigen dauerte an, Fogacers braune Augen starrten fassungslos auf Silvio, immerzu zwinkernd, als hätte der Jüngling ihn geohrfeigt. Und weil er nicht mehr wußte, was tun, was sagen, so sehr litt er, weniger in seinem Ehrenpunkt, als vielmehr in seiner Zuneigung selbst, entschloß ich mich, dieses Eis zu brechen, das sich allseits um seine Seele legte, um wenigstens seinen Geist von seiner Qual abzulenken.
»Was ist denn nun«, fragte ich, »an Navarras Verschwinden nach der Schlacht von Coutras? Warum hat er seine siegreiche Armee aufgelöst?«
|375| »Ha!« sagte Fogacer, und seine zuerst tonlose Stimme festigte sich allmählich, »für Heinrich war dies nie ein Rätsel. Ein Beweis, daß Navarra und er wie eh und je im Einvernehmen sind. Wie Ihr wißt, war Navarra von jeher so klug, mit Absicht den Narren zu spielen. Er hat seine Armee aufgelöst, damit er sie nicht gegen den König führen mußte, seinen erklärten Feind und heimlichen Verbündeten. Und um seine Untätigkeit zu bemänteln, eilte er und legte seinen Lorbeer der schönen Corisande zu Füßen. Dort ist er noch und rammelt wie die Ratz im Stroh.«
»Weiß Guise das?«
»Zuerst nicht«, sagte Fogacer, indem er sich mit sehr traurigen Augen erhob und Silvios Gesicht wie zufällig streifte. »Er wußte von nichts«, wiederholte er, uns den Rücken kehrend, mit plötzlich sarkastischer Stimme, »als er aber sah, daß der König sich die Füße am Feuer wärmte, wie ich jetzt, und zu glauben vorgab, Navarra sei tot, wie in Paris nach seinem Verschwinden gemunkelt wurde, fragte Guise Seine Majestät um Nachricht. Worauf der König ihn von der Seite ansieht, mit einem Blick, den seine italienischen Augen so vielsagend machen, daß man es nicht beschreiben kann, und lachend antwortet: ›Ich kenne das Gerücht und weiß, warum Ihr mich fragt. Er ist so tot wie Ihr.‹ Habt Ihr gehört,
mi fili
, ›so tot wie Ihr‹. Ha! Würden sämtliche besagten Pedanten der Sorbonne ihr Hirnschmalz zusammenwerfen, könnten sie, glaube ich, über diesem einen kleinen Satz endlos brüten und tausenderlei Sinn entdecken, ist der offenbare doch nicht der wahre. Beispiel: ›Er ist so tot wie Ihr, der Ihr lebt.« Das wäre platt. Oder: ›Er ist so tot, wie Ihr, leider, lebendig seid.« Das wäre schon besser. Oder aber: ›Er ist so tot, wie Ihr nach meinem Wunsch sein solltet.‹ Und das ist ausgezeichnet.«
Hierauf wölbte er seine teuflischen Brauen, lächelte sein langsames, gewundenes und sardonisches Lächeln, das sich plötzlich zu einer bitteren Grimasse wandelte, indem all seine Züge sich zum Ausdruck so scharfen Schmerzes verzerrten, daß es mich stumm machte und ich nichts zu sagen wußte, als Fogacer aufstand, mit erstickter Stimme Urlaub nahm und mit neuerlichem flüchtigen Blick zu Silvio hin die Bibliothek verließ, lang, schmal und trauervoll in seinem schwarzen Kleid.
Sechs Wochen nach diesem Abend, der mich doppelt unglücklich |376| machte, hatte ich doch gleichzeitig vom schweren Scheitern der Pläne meines Herrn erfahren wie von Fogacers zehrender und herzzerreißender Sorge, betrat ich nach dem Aufstehen den Pferdestall, um wie gewöhnlich mit dem Freund in den Wald von Montfort auszureiten, und wunderte mich, weder ihn noch sein Pferd vorzufinden. Ich rief Miroul, der mir betrübten Gesichts einen Brief von Fogacer übergab. Er sei, so sagte er, in der Frühe nach Paris aufgebrochen, mit der Bitte, mich nicht zu wecken.
Mi fili
,
nie im Leben hat eine Wunde mich mehr geschmerzt als diese. Sogar der Scheiterhaufen, dem ich durch meine Neigung wie durch meinen Unglauben zwiefach geweiht bin, wäre kürzere Pein, mündet er doch in den barmherzigen Tod.
Mi fili
, vergib mir, daß ich auf englische Art verschwinde und dir Silvio dalasse, er weiß, warum. Weh, je weiter ich fortschreite in diesem elenden Leben, desto mehr erkenne ich, daß lieben am Ende leiden heißt
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