Noch nicht mal alleinerziehend
Kim und Luna war sie wahrscheinlich die einzige Person, die Nora wirklich nah war. Ihren aufmerksamen, strengen, aber liebevollen Augen entging nichts. Und Frauke zögerte nie lange, Nora »zurechtzurücken«, wie sie es nannte, wenn diese mal wieder neben der Spur lief. Und Nora lief oft neben der Spur: ihre nicht in den Griff zu bekommende Unpünktlichkeit, ihre Vergesslichkeit, ihre offene, aber oft unverbindliche Art, ihr regelmäßiges Abtauchen ohne Ankündigung, die damit verbundene Funkstille – Nora brachte es tatsächlich manchmal wochenlang fertig, sich bei niemandem zu melden. »Ich brauche das einfach manchmal, das Alleinsein«, hatte sie Frauke einmal versucht zu erklären. Sie saßen an der Theke einer mexikanischen Bar. Nach irgendeiner Party waren sie hier mit ein paar Leuten noch auf einen Absacker eingefallen. Die Stimmung war ziemlich ausgelassen. Nina hatte sich bereits eine rote Krepppapier-Serviette um die Stirn gewickelt und forderte alle im Laden auf, es ihr gleichzutun. »Blödsinn«, hatte Frauke geantwortet. »Was du brauchst, sind die Eier, auch mal zu sagen, dass es dir nicht gut geht, oder um Hilfe zu bitten.« Dann griff sie ihr Tequila-Glas, leckte das Salz von ihrer linken Hand, kippte das durchsichtige Zeug hinunter und biss mit angewidertem Gesichtsausdruck in eine Zitronenscheibe. Nora war stumm geblieben, Frauke hatte selten Unrecht.
Alle sechs bis acht Wochen trafen sich die beiden mit ihren Freundinnen Senta und Kiki zur Mani- und Pediküre – jeweils im Wechsel bei einer der Vier zu Hause. Seit drei Jahren kam dann ihre brasilianische Perle Gabriella und sorgte für schöne Hände und Füße. Eine richtige Weiberrunde, bei der das ein oder andere Fläschchen Prosecco geleert, gegessen und getratscht wurde. Meist dauerte dieses Happening vier bis fünf Stunden. Als Nora noch gearbeitet hatte, konnte sie nicht immer dabei sein, bei »Gabriella « , wie sie ihren Hand-Fuß-Termin kurz nannten. Auch den monatlichen Mädchenbrunch, der in größerer Runde meist sonntags in einem Café am Brüsseler Platz stattfand, hatte sie vor allem im letzten Jahr oft verpasst. Aber zurzeit genoss sie es außerordentlich, dass sie ihren Terminkalender nur mit diesen Verabredungen, Shoppen, Wellness, Kino, Essen- oder Ausgehen füllen durfte.
Zu Hause brachte sie schnell ihre Einkäufe in die Wohnung, um gleich wieder ihre Taschen zu packen: Brötchen, Chips, Cracker, Frischkäse, Tomaten, Mozzarella, drei Flaschen Prosecco, ihre Jesuslatschen – damit die Fußnägel auch gut trocknen konnten – und die Fußwanne mit Blubber- und Massagefunktion, die ihr Tobi mal geschenkt hatte. Nora erinnerte sich, dass sie ziemlich verdutzt war, als sie die Wanne Weihnachten bei ihren Eltern ausgepackt hatte. »Oh, danke«, hatte sie gesagt, Tobi aber mit ungläubigen Augen angeschaut. Tobi merkte sofort, dass sein Geschenk nicht die gewünschte Reaktion hervorgerufen hatte. Vielleicht hatte Nora die Stirn zu sehr gerunzelt, was eventuell ihre Zornesfalte auf den Plan gerufen haben könnte. »Du hast doch immer so kalte Füße …«, hatte er sein Geschenk entschuldigt. Zumindest die Mädels liebten die Fußwanne und verlangten sie zu jedem »Gabriella«-Termin. So erfüllte das Ding zumindest in regelmäßigen Abständen seinen Zweck. Schnell zog sie sich noch bequeme Sachen an – ihre blaue ADIDAS -Hose mit roten Streifen, ein blaues Longarm-Shirt, eine rote Strickjacke, ihre geliebten grauen Lammfellstiefel –, streifte sich ihren blauen Trenchcoat über und verließ vollgepackt die Wohnung.
Nur zehn Minuten später parkte sie auf einer breiten, von gigantischen alten Bäumen umarmten Allee in Marienburg, dem wohl idyllischsten und einem der nobelsten Stadtviertel in Köln, nur wenige Gehminuten vom Rhein entfernt. Frauke und ihr Mann Sven lebten hier mit ihrer Tochter Kira seit über drei Jahren in einer wirklich wunderschönen Fünfzimmerwohnung mit großem Garten. »Total kindgerecht halt«, hatte Frauke damals – die Hände schützend über ihren kugelrunden Bauch haltend – den Umzug von der Südstadt ins Erdgeschoss des Zweifamilienhauses kommentiert.
Ausnahmsweise war Nora zu früh – es war zehn vor zwölf. Sie klingelte.
»Nola, Nola. Maaaami, ist das Nola?«, vernahm sie das von Fußgetrappel begleitete Stimmchen der dreijährigen Kira, noch ehe sich die Tür öffnete.
»Ja, Schatz. Und es heißt No-ra – mit rrrrrrrr.«
Die Haustüre flog auf, und Kira, die hellblonden Haare zu
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