Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
wie eine Fliege zu zermalmen.
„Hast du Angst?“ Vollkommene Ruhe ging von ihm aus. Als könnte nur die Gefahr seine Seele besänftigen. „Sei ehrlich zu mir.“
Sie sagte nichts darauf, zog ihren Bogen aus dem Futteral und testete die Spannung der Sehne. Weder zu schwach noch zu stark. Perfekt.
„Du solltest Angst haben.“ In Noconas Augen lag keinerlei Spott. „Angst rettet uns das Leben. Für nicht wenige Männer, die du hier siehst, wird es die letzte Jagd sein.“
„Hast du Angst?“ gab sie zurück. „Sei ehrlich zu mir.“
„Ja, ich habe welche. Überrascht dich das? Bist du jetzt enttäuscht von mir?“
„Nein.“ Ihre Zuneigung wuchs. Während er sie mit stillem Ernst b e trachtete, nahm sie ein schier unerträgliches Ausmaß an. Wenn er die Jagd nicht überlebte, würde auch sie nicht überleben.
„Würdest du mir einen Gefallen tun?“ fragte er leise.
„Ja. Es sei denn, du willst, dass ich zurückreite.“
„Nein, das würde ich nie von dir verlangen. Ich will nur, dass du am Rand der Herde bleibst. Versuche nicht, zwischen die Tiere zu kommen. Es ist deine erste Große Jagd. Selbst für einen erfahrenen Jäger ist es gefährlich, zwischen den Büffeln zu reiten.“ „Wirst du zwischen ihnen reiten?“
Er ging nicht auf ihre Frage ein. „Versprich mir, dass du am Rand bleibst.“
Naduah zwang sich zu einem Nicken. Ob sie sich an ihr Versprechen halten würde, war eine andere Sache. Im Rausch der Jagd ging vieles unter.
Nocona ließ seinen Blick schweifen. K upferfarbene Federn steckten in den geflochtenen Strähnen, die von seinen Schläfen aus nach hinten verliefen. Er saß auf dem Rücken seines Pferdes wie gestaltg e wordener Stolz. Unnahbar, versunken in seiner eigenen Welt, seltsam fern von ihr.
„Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.“ Seine Worte wurden vom Wind fast verschluckt, und doch hallten sie laut in ihrer Seele wider. „Nicht nur, weil unser Blut sich vereint hat. Es ist mehr. Viel mehr. Auch wenn ich es dir bisher nicht zeigen konnte.“
Erwartungsvolles Schweigen senkte sich über die Gruppe. Naduah ließ sich tief in diese Stille hineinsinken.
Es ist mehr. Viel mehr . A uch wenn ich es dir bisher nicht zeigen konnte …
Die eisige Luft des Herbstmorgens begann zu summen, erhitzt von Jagdfieber und der bittersüßen Entschlossenheit, jedes Risiko in Kauf zu ne h men. Kinder und Frauen kamen über die Hügel auf sie zugelaufen. Einige Jäger murmelten Gebete, andere dehnten und streckten ihre Muskeln, um sie geschmeidig zu halten. Manche ritten zu ihren Frauen, um sie noch einmal im Arm zu halten, und wieder andere lauschten wie Naduah stumm in sich hinein.
Irgendwann, als die Ruhe begann, sich endgültig anzufühlen, hörte sie Noconas Stimme.
„Komm mit mir, mein Blauauge. Reite an meiner Seite.“
Naduah schüttelte ihre Lähmung ab. Sie presste die Schenkel zusa m men, lenkte Siyo neben Cetan und erklomm Seite an Seite mit Nocona den Höhenzug. Niemand verlor mehr ein Wort. Es gab nur noch die Jagd, das Fieber und die in Fleisch und Blut übergegangene Fähigkeit, mit dem Tod zu tanzen.
Sie fühlte sich eins mit jedem Atemzug und jedem Herzschlag, wä h rend das Wissen über ihr lag, dass der winzigste Fehler sie aus dieser Welt reißen konnte . An der Spitze des Hüge l kamms zügelten sie ihre Pferde. Siyo stellte die Ohren auf. Wie gebannt von dem unbeschreibl i chen Anblick, der sich ihnen bot, verharrte jeder Jäger in stiller Eh r furcht.
Die Prärie erstreckte sich bis zum dunstverhangenen Horizont und schi m mer te im bleichen Licht des Spätherbstes. So weit das Auge reichte sprenkelten schwarze Inseln und Flüsse die Hügel und Ebenen. Träge flossen sie über das Land , aus unzähligen, zottigen Körpern g ebildet .
Naduah sah nicht mehr den Himmel, nicht die Erde und nicht die J ä ger um sich herum. Ihr Geist öffnete sich einzig und allein diesem heil i gen Wunder, das jedem Menschen mit Verstand zeigen musste, welche Macht in der Schöpfung lag. In ihrem ersten Leben hatte man ihr das Zählen beigebracht. Sie wusste, was die Zahl Hundert umschrieb. Sie hatte eine Vorstellung davon, was Tausend bedeutete. Doch diese Masse an Tieren überstieg ihre Vorstellungskraft. Wie viele mochten es sein? Tausend mal Tausend und noch viel mehr?
Erst, als sich die Reihe aus Jägern auflöste und über den Hügelkamm verteilte, kehrten Naduahs Gedanken ins Hier und Jetzt zurück. Au f merksam verfolgte sie die Strategie der Männer,
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