Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
rief, nahm man das als Wink der Geister. Es geht ihm gut. Niemand wird euch wehtun.“
Die Indianerin atmete tief ein und blickte beiseite. Ihr Gesicht war starr, ihre Augen glänzten feucht. Zitternd verschränkte sie ihre schweiß nassen Hände im Schoß. So hatte ihre Mutter geblickt, als …
Nein! Cynthia ballte di e Hände zu Fäusten. Diese Ba r baren waren die Mörder ihrer Familie! Sie spielten nur mit ihr wie eine Katze mit der Maus spielte und der Teufel mit einfältigen Seelen.
„Geh!“, spie sie ihr entgegen. „Geh weg! Ihr habt alle umgebracht.“
Diese Worte stießen wie ein Messer in ihr Herz.
Alle umgebracht … alle tot …
Cynthia erwartete einen Schlag. Einen Tritt oder irgendetwas Wüte n des, das die wahre Natur der Teufelin zeigte, aber nichts geschah. Die Indianerin streckte nur eine Hand vor und legte die Fingerspitzen auf ihre Wange. Cynthia wollte vor der Berührung zurückzucken, aber ihr Körper, obwohl leer und gewichtslos, war starr wie ein Felsen.
„Der Weg der Seele ist blau“, flüsterte die Frau. „Wie die blauen Bl ü ten. Wie deine Augen. Dein Herz ist unglaublich stark, Cynthia. Du hast gekämpft wie eine Wölfin. Du hast geschrien und getobt und drei Mä n nern das Gesicht verunstaltet. Danach hattest du noch die Kraft, drei Schüsseln Suppe zu essen. Das ist mehr, als ein ausgewachsener Krieger schafft.“
Lügen, alles Lügen. Sie erinnerte sich an nichts. Endlich löste sich die Starre ihres Körpers. Mit einem wütenden Schrei fegte sie die Hand der Frau zur Seite. Eine Anstrengung, die ihr fast die Sinne genommen hätte. Sie krallte ihre Finger in den dicken Pelz, auf dem sie hockte.
„Wo ist John?“
„In einem anderen Lager. Mehrere Tagesritte von hier entfernt.“
Ein Wimmern kämpfte sich aus ihrer Kehle. Oh, wäre ihr Bruder doch nur hier. Könnten sie doch nur zusammen sterben. Ihre Füße taten weh, so schrecklich weh, aber vi el schlimmer war die Erinnerung.
„Lass mich aufwachen, lieber Gott. Verlass mich nicht. Lass mich bitte aufwachen.“ Ihre Augen brannten, als hätte man Sand hineingestreut . Keine Träne kam. Nicht eine einzige. Während leise Gebete wie von selbst über ihre Zunge kamen, sah sie nach oben. Durch die Öffnung der Zeltspitze leuchtete der Morgenhimmel, klar und frisch. Ihre Familie war jetzt bei Gott. Sie musste tapfer sein, voller Reue und Mut, damit auch für sie sich der Himmel öffnete. Nur dann würden sie sich wiedersehen. Aber es war schwer, tapfer zu sein, wenn alles so grausig aussah. Die mit Fellstreifen und Federn geschmückten Waffen, die scharfen Äxte und die Schilde und Felle.
Leise flackerte das Feuer vor sich hin, in einem Kessel darüber köche l te Suppe. Vielleicht würde man sie bald in Stücke schneiden und darin garen .
„Wo bin ich?“ Sie fuhr zu der Indianerin herum und straffte sich. Ke i ner dieser Heiden sollte glauben, dass sie Angst hatte. Das Paradies wa r tete auf sie. In ihrem Kopf sah sie Mutter, die lächelnd die Arme nach ihr ausstreckte. „Wohin habt ihr mich gebracht?“
„Du hast lange geschlafen, mein Kind“, sagte die Frau. „Alles ist gut. Du gehörst jetzt zu meiner Familie. Ich werde dafür sorgen, dass es dir nie an etwas fehlt.“
„Nein! Niemals! Ihr habt meine Familie getötet! Ihr habt sie alle get ö tet! Ich hasse euch! Ich will zu John!“
„Bitte hör mir zu. Ich will dir alles erklären.“
„Geh weg! Verschwinde! Ich will nach Hause!“
„Ich weiß, aber das geht nicht.“ Die Frau blickte zu Boden. Fast wirkte ihre Traurigkeit echt. „Mein Name ist Huka. Es bedeutet ‚ Die sich nicht fürchtet ’ .“
Cynthia presste die Lippen aufeinander. Es war ihr egal, was diese Wi l de ihr erzählte. Mochten sie sie nur quälen und töten, es war ihr gleich, denn sie wusste, dass der Weg in den Himmel oft von Schmerzen begle i tet war. Sie hoffte nur, dass John kein Leid widerfuhr. Sie hoffte so sehr für ihn, dass es schnell ging.
„Aber ich glaube“, fuhr die Frau leise fort, „dass man mir zu Unrecht diesen Namen gegeben hat. Ich fürchte mich nämlich oft. Damals in der Welt der Weißen habe ich mich vor meinem Mann gefürchtet. Vor se i nen Schlägen, vor seinem Geschrei und seinen Wutausbrüchen. Ich habe mich vor dem Beil gefürchtet, das er jede Nacht unter das Bett legte, für den Fall, dass ich ihm nicht gehorche. Ich habe mich jeden Abend beim Einschlafen davor gefürchtet, am Morgen wieder aufzuwachen. Einmal habe ich meinem Mann absichtlich
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