Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
hervorbrachte, schöner als alles, was du dir vorste l len kannst.“
„Ich will zu ihm!“
„Das wirst du, mein Kind. Mahto wird dich in Noconas Dorf bringen. Du kannst ihm vertrauen. Nur du kannst deinen Blutsbruder zurück ins Leben holen.“
„Ins Leben zurückholen? Geht es ihm nicht gut?“
Natürlich, man hatte seine Brust durchschossen. Wie konnte sie solch eine dumme Frage stellen? Falls er noch lebte, schwebte er in höchster Gefahr. Denn wer den Schuss überlebte, starb oft nur kurz darauf durch vergiftetes Blut.
„Er schafft es nicht , zurückzukehren“, sagte Huka.
„Zurückzukehren?“
„Ihr würdet es Jenseits nennen, wir nennen es Zwischenwelt. Er ist nicht tot, aber ihm fehlt die Kraft, zurückzukehren. Du wirst sie ihm geben.“
„Ich?“ Sie glaubte, sich verhört zu haben. Sie war nur ein Kind, und Gottes Zorn lastete auf ihr. Niemals würde er ihr helfen, einen heidn i schen Jungen zu heilen. Oh ja, Vater hätte sie geschlagen, wenn er g e wusst hätte, dass sie sich nach Noconas Anblick sehnte. Aber es war so. Sie wollte bei ihm sein. Ja, sie wollte es, und wenn deshalb ein Blitz vom Himmel herabfuhr, um sie zu töten, dann sollte es so sein. „Warum ich? Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Du musst nichts tun“, sagte Huka. „Sei einfach nur bei ihm. Ihr seid jetzt eins. Ihr habt einander das Leben gerettet, euer Blut hat sich ve r mischt. Kein Band ist stärker. Verstehst du das? Es ist wie in einem Mä r chen, in dem zwei Menschen füreinander bestimmt sind. Sie finden sich immer und überall wieder, selbst über den Tod hinaus.“
Cynthia blieb kaum Zeit, diese Worte zu begreifen. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hob Mahto sie auf seine Arme und trug sie aus dem Zelt. Den Streifschuss an ihrer Schulter spürte sie kaum noch, aber ihre Füße brannten lich t erloh , als beim Hochheben ein Ruck durch ihren Körper ging. Draußen war die Sonne aufgegangen. Ihre Strahlen flossen über das Dorf, Zelte warfen Schatten auf das taunasse Gras. Der Beginn eines langen, heißen Sommertages. Gestern um diese Zeit hatte sie auf dem Feld gearbeitet. An Mutters Seite, den Rücken krumm vom vielen graben und hacken.
Sie hätte sich fürchten sollen, sie hätte Gram und Trauer fühlen mü s sen, stattdessen war alles, was sie empfand, ein großes Erstaunen. Sie sah Kinder, die mit Hunden und zahmen Gabelantilopen spielten. Frauen, die bei ihrer Arbeit sangen und den Tag begrüßten. Es gab w o gendes Gras, das bis zum Horizont reichte, riesige Pappeln und einen glitzer n den Fluss, in dem sich ein paar Jungen mit Schlamm bewa r fen. Vor allem aber staunte sie über die gewaltige Pferdeherde, die am gegenübe r liegenden Ufer des Stromes graste. Es mussten Hunderte sein. Pfe r de in allen Farben. Hengste, Fo h len und Stuten. Kein Zaun hielt sie gefangen, kein Gatter, keine Stricke. Vollkommen frei liefen sie umher, ohne dass auch nur eines auf den Gedanken kam, die Flucht zu ergre i fen.
Als Mahto einen Pfiff ausstieß, löste sich mitten aus der Schar ein braunweiß gescheckter Mustang. Wasserfontänen funkelten im Sonne n schein wie gleißende Kaskaden, als das Tier durch den Fluss preschte. Hin zu seinem Herrn.
„Bring Nocona zu uns zurück.“ Huka strich über ihr Haar, so sanft, dass Cynthia s ausgetrocknete Augen sich wieder mit Tränen füllten. „ Sein Leben ist noch nicht zu Ende. Ihr beide habt euer Schicksal noch vor euch.“
Sara, 2011
D
er Ton des Weckers riss sie unsanft in die Wirklichkeit. Ein Puzzleteil nach dem anderen setzte sich zu einem Bild zusammen, das verwirrender nicht hätte sein kö n nen.
Mit einem Schlag brachte Sara den Wecker zum Schweigen und rieb sich die Augen. Die Zelte, der Himmel, die Pappeln am Fluss. Für M o mente waren diese Eindrücke realer als die Wirklichkeit. Am ehesten war es so, als würde sie aufwachen und begreifen, dass die Realität nur ein Traum war. Und Träume die Realität.
Sie blinzelte in Richtung Wecker. Ihre Hoffnung, noch Zeit zu haben, um die Traumwelt abzuschütteln, wurde schlagartig von Entsetzen ve r trieben. Ihr blieben noch neun Minuten Zeit, um ins Büro zu kommen. Verdammter Mist. Sonst war sie jeden Tag Punkt sechs Uhr wach. Der Grad ihrer Kopfschmerzen trug Sorge dafür, dass sie ungeachtet der davonrasenden Zeit nur zögerlich auf die Beine kam. Konfusion sickerte durch ihre Betäubung. Normalerweise erinnerte sie sich nie oder nur bruchstückhaft an ihre Träume, und jetzt geschah es
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