Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
legte er auf. Ihm war, als wäre da eine Erkenntnis, ganz nah, doch es gelang ihm nicht, danach zu greifen. Er schwebte zwischen den Welten. Zwischen Traum und Wirklichkeit. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Seine Reise war noch nicht abgeschlossen. Bevor Sara zu ihm kam, musste er noch einige Wahrheiten aufdecken.
„Sag mir, wenn sie anruft.“ Er wich Isabellas Blick aus und wandte sich zur Tür. „Hast du verstanden?“
„Was meintest du gerade mit den Visionen?“
„Nichts. Versprich mir, dass du mir Bescheid gibst, sobald ihr Anruf kommt. Nein, schwöre es mir.“
„Von mir aus.“ Wieder kroch diese Kälte in ihre Stimme. „Ich schw ö re es. Kann ich dich morgen wieder zur Arbeit einteilen?“
„Ja. Kannst du.“
Seine Gedanken entglitten ihm. Wurden immer wirrer, immer blasser, während er auf Georges Wagen zuging, die Tür öffnete und sich in den Sitz fallen ließ. Das Geplapper des alten Mannes nahm er kaum bewusst wahr. Am Horizont zogen die Berge vorbei, vom hellen Sonnenlicht in scharfe Kontraste getaucht. Wolkenschatten trieben über ihre schneeg e sprenkelten Hänge. Makah lehnte die Stirn gegen die Scheibe und ble n dete alles aus, was ihn umgab. Sein Blick schweifte in die Ferne, sein Geist löste sich aus dem Körper und folgte ihm. Hinaus in den Fluss der Zeit.
Nocona, 1844
E
s war das Schönste, w as Nocona jemals erblickt hatte.
Nach langer Zeit, die sie in einer Höhle verbracht, sich von geschmolzenem Schnee, Flechten und ein paar dürren Tieren ernährt hatten , glaubte er , sich in einem Traum zu befinden. Während des Winters hatten sie nicht gelebt, so n dern existiert. Halb wachend, halb schlafend, nicht von den Schmerzen g e peinigt , die bald alltäglich geworden waren, sondern von der schwindenden Hoffnung, zu überleben. Alles, woran sich Nocona erinnerte, waren das Heulen des Windes, das Sirren der Schneekristalle und der Donnerhall abstürzender Lawinen.
Jetzt, nach einer Odyssee durch die Berge, in deren Ödnis das Auge kaum einen Halt gefunden hatte, endete das Felsenlabyrinth. Eine von Wäldern bedeckte Hügellandschaft ruhte unter blauem Himmel. Das Grün tat den Augen beinahe weh. Fast hatte er vergessen, dass diese Farbe überhaupt existierte. Wolkenschatten huschten über die Wipfel der Tannen, flirrende Lichter funkelten auf einem See, dessen Blau der Gle t scherfluss mit einem schmutzig grauen Delta bemalte. Wie lange war es her gewesen, dass er Sonnenlicht gesehen, Wärme auf d er Haut gespürt und Vogelgezwitscher gehört hatte? Mondelang? Jahrelang? War es überhaupt jemals wirklich gewesen?
Kraftlos stieg er ab und führte Cetan am Zügel den Hang hinab. Mehr als einmal rutschte er auf dem lockeren Untergrund aus und schlug sich die Knie auf, doch er spürte keine Schmerzen mehr. Sein Körper war schwer wie ein Fels und ebenso gefühllos. Dort, wo der Geröllhang endete, erstreckte sich eine Wiese bis an das Ufer des Sees. Überall wuchs herrliches, saftiges Gras. Farne gediehen üppig, ein Meer aus K ö nigskerzen und gelben Flockenblumen narrte seine Augen mit strahle n den Farben.
Während Nocona inmitten der Blumen verharrte und zu begreifen versuchte, dass ihre Marter ein Ende gefunden hatte, machten sich die Pferde über das Gras her. Kehala labte sich an den eingerollten Blattspi t zen der Farne, grub nach Wurzeln und löste ihren Zopf, damit der Wind durch ihr Haar wehen konnte. Nocona wusste, dass er dringend Pfla n zen zu sich nehmen musste, und doch stand er da und konnte sich nicht überwinden, das Nötige zu tun. Während der langen Zeit des Hu n gers hatte die karge Nahrung ihren Tribut gefordert. Schwäche, Zahnfleisc h bluten und Fieber. Er kannte diese Krankheit. Wenn er keine Pflanzen zu sich nahm, würde es bald schlecht um ihn stehen.
Also ging er durch das sonnenflirrende Grün, sammelte Farntriebe, grub am Seeufer die Wurzeln des Rohrkolbens aus und pulte Schnecken aus ihren Häusern, auch wenn sie in rohem Zustand nicht sonderlich schmeckten.
Als Kehala neben ihm auftauchte, schloss er sie in die Arme und wi r belte sie herum wie ein kleines Kind. „Wir werden hier am Ufer eine Hütte bauen, Schwester.“ Langsam kehrte das Leben in ihn zurück. „Wir werden so lange bleiben, bis man bei uns und den Pferden nicht mehr alle Knochen zählen kann.“
„Fangen wir gleich damit an?“ Sie sah immer noch aus wie ein G e spenst, doch die Freude war in ihre Augen zurückgekehrt. „Es gibt hier viel gutes Holz. V iel
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