Nocturne City 01 - Schattenwoelfe
ins Fleisch geschlagenen Spalten der anderen Opfer gemein. Insgesamt befand sich auch weniger Blut an und um die Leiche herum. Wenn da nicht der abgetrennte Finger gewesen wäre, hätte ich stark bezweifelt, dass es sich um denselben Täter handelte. Aber es war derselbe. Ich konnte ihn in dem Raum riechen, ihn fast spüren, wie er mir über die Schulter sah.
Meine Finger strichen über Katyas Bauch. Bei genauerem Hinsehen sah ich dort eine kleine rosafarbene Schnittwunde, die mir im ersten Moment durch das spärliche Licht der Schminkspiegel nicht aufgefallen war. Es war die Ansatzstelle für einen Schnitt, der auch die Körper von Marina und Lilia vom Hals bis zum Bauch hinunter aufgerissen hatte – allerdings war dieser hier unvollkommen.
Der Täter war gestört worden.
Als ich meine latexüberzogenen Finger auf die Haut der Toten legte und merkte, dass ich in derselben Haltung über dem Mädchen kauerte, wie es ihr Mörder vor ein paar Stunden getan hatte, schien die Temperatur in der Umkleide für einen Moment auf den Gefrierpunkt abzufallen. Wenn ich jetzt laufen müsste, weil Copperfield zurückkam, um abzuschließen – wohin würde ich fliehen?
Von meiner Position neben Katyas Körper aus sah ich die Kante einer Metalltür hinter einem Regal mit flauschiger Unterwäsche hervorlugen. Bevor ich Zeit für einen weiteren Gedanken hatte, sprang ich über die Leiche hinweg und stürmte durch die Tür hinaus in eine Gasse. Ich hatte das Gefühl, nur meine Hand ausstrecken zu müssen, um den Jackenkragen des Mörders zu fassen.
Ich sah aber niemanden. Nur ein paar zerrissene Zeitungsfetzen und einige leere Plastiktüten raschelten im Wind. Ich atmete aus und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand des Stripclubs. Mein Herz bebte wie ein Subwoofer.
„Detective?“, sprach mich Officer Thorpe an.
Ich zog die Latexhandschuhe von meinen Händen und warf sie in den nächstbesten Müllcontainer, bevor ich mich ihm zuwandte. Meine Hände zitterten. Nicht mehr lange, und ich würde einer von ihnen werden – einer dieser Cops, die sich erst in ihre eigene Welt zurückziehen und sich früher oder später den Lauf ihrer Neunmillimeter in den Mund stecken. Schon von Wilder gehört? Ja, ist übergeschnappt. Kam nicht mit dem Druck klar.
„Detective?“, wiederholte Thorpe.
„Was gibt s?“
„Wir scheinen Glück zu haben“, erklärte er. „Im Club gibt es eine Kamera, die vor ein paar Jahren eingebaut worden ist.“
„Eine Sicherheitskamera?“
„Hmm, nicht wirklich“, gab er beschämt zu. „Man hat die Tänzerinnen aufgenommen und dann das Material auf der Website des Clubs verkauft. Die Kamera ist auf die Bühne gerichtet, aber es könnte sein, dass man auf dem Band auch die Leute sieht, die noch kurz vor Ladenschluss da waren. Wenn der Täter tatsächlich im Club war, könnte das eine Möglichkeit sein, Ma’am.“
„Was soll dieser Quatsch mit dem ständigen Ma’am?“, fragte ich, ohne Thorpe direkt anzusprechen.
„Tut mir leid, Ma’am“, antwortete Thorpe und biss sich wegen des erneuten Ausrutschers auf die Lippe.
„Schicken Sie eine Kopie der Aufnahmen an das 24. Revier, Officer. Vielen Dank.“
Er hielt mir die Tür zum Club auf, aber ich schüttelte den Kopf.
„Ich brauch noch etwas frische Luft.“ Und ich wollte außerdem noch den Rest der Gasse abgehen. Auch wenn ich keine große Hoffnung hatte, fand ich vielleicht doch einen Hinweis oder irgendetwas Brauchbares.
Thorpe brummte noch irgendwas in sein Funkgerät und ließ kurz danach die Tür mit einem leisen Knall zufallen. Als ich mich dann umdrehte, sah ich es: die Sigille.
Erst vor ein paar Tagen in Ghosttown auf dem brennenden Gehweg, dann in Stephen Duncans unsichtbarem Tattoo und nun hier – in Metall gehämmert und in der Morgensonne silberfarben glühend.
Als meine Augen das Zeichen fixierten, fühlte es sich an, als würde jemand eine Bohrmaschine in meine Stirn jagen: Das fauchende Zischen und die flüsternden Stimmen waren ohrenbetäubend, und in mir stieg unweigerlich die Frage auf, ob sich so die Welt von Stephen Duncan anfühlte. Meine Gedanken wurden panischer, und ein Krampf in der Magengegend machte mir klar, dass ich – wieder mal – falschlag.
Die glänzende Sigille brannte in meinen Augen, sodass ich die Lider zukneifen musste. Mit einem schnellen Griff zog ich mein Handy aus der Tasche und hielt es in Richtung Tür. Ein kurzes Klicken, und schon ließ ich das Handy wieder zuschnappen, ohne einen
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