Nocturne City 02 - Blutfehde
ich den Artikel überflogen hatte, wusste ich zumindest, warum mir sein Gesicht im Bete Noire so bekannt vorgekommen war. Zumindest steht ihm das Kleid ganz gut, tröstete ich mich. Wahrscheinlich von Gucci.
Als ich den Namen auf der nächsten Mappe las, verkrampften sich meine Finger – SEAMUS MALACHY O’HALLORAN. Ich hatte zwar vermutet, dass Vincent jemanden aus der Familie der O’Hallorans erpresst hatte, aber dass Seamus selbst es war, hätte ich nicht erwartet. Das Familienoberhaupt der O’Hallorans war also nicht nur ein verdammt angsteinflößender Typ, sondern auch ein Perversling vor dem Herrn. Woher er allerdings die Zeit für solche Spielereien nahm, war mir ein Rätsel.
In der Mappe befand sich nur ein einzelner Negativstreifen. Als ich ihn gegen das gelbe Licht der Lampe hielt, zuckte ich zusammen. Anscheinend genoss es Seamus genauso sehr wie Samael, andere Personen zu kontrollieren, und scherte sich dabei einen feuchten Kehricht um Geschlecht oder Alter seiner Opfer.
Obwohl die Luft in dem kleinen Raum mehr als muffig war, atmete ich tief ein, um mein Entsetzen herunterzuschlucken. Dann legte ich den Negativstreifen wieder in die Mappe zurück und schob sie unter mein eng anliegendes schwarzes Polohemd. Nachdem ich meine Jacke übergestreift hatte, begutachtete ich die eigenartige Wölbung an meinem Bauch und versuchte mir einzureden, dass ich mit etwas Glück als im sechsten Monat schwanger durchgehen würde. Die restlichen Mappen legte ich zusammen mit den Fotos wieder zurück in die Metalllade. Da nur ich den Schlüssel zu diesem Schließfach hatte, schien das brisante Material hier am sichersten verwahrt zu sein.
Nachdem ich die Bank verlassen hatte, bog ich in eine Seitenstraße der Main Street ein und ging in Richtung O’Halloran Tower. Schon nach den ersten zwei Blocks schwirrten so viele wütende Gedanken durch meinen Kopf, dass das Blut wild in meinen Adern zu kochen begann und ich das Hecheln der Wölfin in meinem Kopf hören konnte. Seamus war ein Sadist und ein Mörder obendrein. Ich war fest entschlossen, ihn zu überführen, Wenn ich mit ihm fertig war, würden sich noch nicht mal mehr die dreckigsten Straßenköter von Nocturne für die traurigen Reste seines ach so aufrichtigen Lebens interessieren, und auch sein tadelloser Ruf würde dann keinen Pfifferling mehr wert sein.
Während ich durch die Lobby des O’Halloran Tower ging und im Fahrstuhl den Knopf für das höchste Stockwerk drückte, musste ich unweigerlich an Shelby denken. Sie hätte angesichts meines Vorhabens sicherlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Trotzdem war ich mir in diesem Moment relativ sicher, dass sie an meiner Seite stehen würde, wenn es ihre Gesundheit zugelassen hätte. Zumindest redete ich mir das während der Fahrstuhlfahrt ein, um mich selbst davon zu überzeugen, das Richtige zu tun. Erst als sich die Türen öffneten, wurde mir klar, dass es möglicherweise doch keine sonderlich gute Idee war, Seamus O’Halloran derart auf die Füße zu treten.
Im Vorzimmer von Seamus’ Büro saß eine gut aussehende Sekretärin mit eisblauem Lidschatten und Designerklamotten, die sie sich nur schwerlich von ihrem Tippsengehalt gekauft haben konnte. Als sie mich erblickte, quiekte sie kurz auf, was mich nicht verwunderte, da ich in dem geleckten Wartebereich wahrscheinlich wie ein Hells-Angels-Mitglied in einem Priesterseminar wirkte.
„Ich muss mit Seamus sprechen“, sagte ich zu der Sekretärin und streckte ihr meine Dienstmarke entgegen. Mit einem Stirnrunzeln beäugte sie die goldene Marke, als müsste sie fremdländische Schriftzeichen entziffern.
„Mr O’Halloran ist gerade sehr beschäftigt“, antwortete sie nach einer kleinen Pause mit übereinandergelegten Händen.
„Das bezweifle ich nicht im Geringsten, Ma’am, und von daher möchte ich es auch Ihnen überlassen, ob Sie ihn jetzt unterbrechen wollen oder lieber warten, bis ich die Tür zu seinem Büro eintrete.“ Mit einem Blick auf die Doppelmilchglastüren vor Seamus’ Büro fügte ich hinzu: „Ich schätze mal, dass diese Dinger über ein zentrales Alarmsystem mit dem NCPD verbunden sind. Wenn ich sie eintrete, ist hier in null Komma nichts die Hölle los. Sie haben also die Wahl zwischen mir und einer Horde Streifenpolizisten. Aber ich warne Sie, meine Kollegen werden sich nicht extra die Füße abtreten, bevor sie hier reinmarschieren.“
Sie spitzte die Lippen und griff hastig nach dem silberfarbenen Telefon auf
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