Nördlich des Weltuntergangs
Finsternis. Die Radiosender waren nicht mehr zu empfangen.
Die Luft war erstickend feucht. Eemeli Toropainen schickte eine Nachricht in jedes Dorf seiner Gemeinde und forderte die Bewohner auf, in Kellern und Erdhöhlen Schutz zu suchen. Sie sollten das Gesicht mit einem feuchten Tuch bedecken und genügend Trinkwasser mitnehmen.
Im Schein einer Taschenlampe kletterte der tapfere Sulo Naukkarinen auf den Kirchturm und läutete die Glocke. Sie klang gedämpft, als wäre der bronzene Klöppel mit Mull umwickelt.
Feldpröbstin Tuirevi Hillikainen begab sich vom Pfarrhaus in die Kirche. Sie zündete Kerzen an, trat in dem gespenstischen Licht vor den Altar und kniete nieder. Dort betete sie lange und erbat vom Allmächtigen Schutz und Gnade für die Menschheit und für Ukonjärvi.
Die undurchsichtige schwarze Finsternis hielt den ganzen Tag, die folgende Nacht und auch noch den nächsten Vormittag an. Erst am Nachmittag des zweiten Tages kam Wind auf. Schwarze Asche wirbelte wie im Schneesturm über das dunkle Land. Die Wolkenmasse bekam Risse, es wurde heller. Dann ging ein heftiger Sturzregen nieder; Blitze zuckten, der Donner grollte, als wäre der Himmel aus Stein und würde jetzt gesprengt. Die Bäume bogen sich, an den Fenstern floss in Rinnsalen rußiges Wasser hinunter. Die Pfützen, Bäche und Flüsse wurden schwarz wie Kienruß, die Wellen des Ukonjärvi, die an die Uferfelsen schlugen, hatten dunkelgraue Schaumköpfe. Das Unwetter wütete den ganzen Abend und die Nacht über der Einöde. Die Flüsse schwollen an, Bäume knickten um, Schindeldächer wurden abgerissen.
Endlich, am Morgen des 16. Juni, verzogen sich die letzten Wolkenfetzen vom Himmel, der Sturm ließ nach, und die Sonne kam hervor. Die kleinen Vögel putzten den Ruß aus ihrem Gefieder und begannen aus voller Kehle zu singen. Die Kernfinsternis des dritten Weltkrieges war vorbei.
Eemeli Toropainen befahl der Partisanenkompanie, Strahlungsmessungen durchzuführen. Zu Pferde eilten die Soldaten an einzelne Punkte der Gemeinde und nahmen Proben aus dem Boden und aus dem Wasser, das immer noch schwarz war. Die Strahlungswerte waren erheblich gestiegen, aber sie waren wesentlich niedriger als in den Anfangsstunden der langen Finsternis. Eemeli ordnete an, dass die Leute eine Woche lang in ihren Häusern bleiben und sich nicht waschen sollten. Die Partisanen ritten durch die Dörfer und kontrollierten, ob die Anordnung eingehalten wurde.
Bald erfuhr man auch den Grund für das Ereignis. Als die Rundfunkprogramme wieder zu empfangen waren, berichtete ein italienischer Piratensender, dass die Wolke eine Folge der starken Kernladungen gewesen war, die in verschiedenen Teilen der Welt gezündet worden waren. Aus der verbrannten Erde waren Unmengen von radioaktivem Staub aufgestiegen. Dieser hatte sich in den oberen Luftschichten gesammelt und war schließlich so dick geworden, dass die Sonne nicht mehr hindurchdrang. Die Riesenwolke war über Asien, Europa und Ukonjärvi hinweggezogen. Es war die schwarze Hexenküche des dritten Weltkrieges gewesen, schlimmer und gewaltiger als ein Feuersturm.
Die finnischen Zensurbehörden erklärten, dass diese so genannte »Junifinsternis« von anderthalb Tagen Dauer ein natürliches Ereignis gewesen sei, das allerdings ziemlich selten auftrete. Dergleichen komme vor, wenn sich in der Atmosphäre Industriegase angesammelt hatten, die sich dann mit den verschiedenen Urstoffen verbanden und so eine ungewöhnlich starke, lichtundurchlässige Wolkenformation verursachten. Die Bischöfe wiesen in ihren Stellungnahmen auf die aus der Bibelgeschichte bekannte »Ägyptische Finsternis« hin.
Wie auch immer, die Sonne schien und die Vögel sangen wieder. Das Leben in Ukonjärvi verlief bald in den üblichen Bahnen. Der Weltkrieg ging weiter, das Gras wuchs, die Ochsen wurden dicker.
Schon ein ganzes Jahr lang hatten Eemeli oder einer seiner Leute vom Bahnhof Valtimo regelmäßig die französischen Kriegslieferungen abgeholt. Die Kisten trafen einmal pro Woche ein, immer unverändert im gleichen Takt. Für welchen Zweck die darin verpackten dünnen Metallplatten bestimmt waren, wusste immer noch niemand. Die verschiedensten Vermutungen wurden angestellt. Sollten diese seltsamen Platten vielleicht Ersatzteile für irgendeine militärische Anlage sein? Womöglich dienten sie auch zur Erkennung im Nachtkrieg, denn sie glühten ja schwach in der Dunkelheit. Oder vielleicht waren sie die Verkleidung für irgendein
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