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Nonnen

Nonnen

Titel: Nonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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Vororten zu bestehen: ein Zentrum
hatte ich während der Zeit, die ich hier lebte, nicht
entdeckt, obwohl es meine Lieblingsbeschäftigung war, die
geborstenen Straßen der Stadt auf endlosen, labyrinthischen
Spaziergängen tags und nachts zu erkunden. An manchen
Straßen standen bizarr verkrüppelte Bäume;
entweder waren sie schon nackt und tot, oder sie erwarteten den
Tod mit langen, gebogenen, ausgestreckten Armen. Nirgendwo gab es
einen Park, eine zweite Wiese oder auch nur einen Garten. In
dieser Hinsicht war der lückenhaft umstandene, verwilderte
Rasen allerdings ein ungewöhnlicher Ort.
    Obwohl das schadhafte Gatter, das die Wiese umgab,
lächerlich niedrig war, sah ich doch niemals jemanden auf
jener Wiese, nicht im Sommer, auch nicht im Winter, wenn an
wenigen Tagen eine dünne, grauweiße Schneedecke das
Gras wie ein Mantel aus schorfiger Haut bedeckte und eigentlich
auf die wenigen Kinder dieser greisen Stadt eine magische
Anziehung hätte ausüben müssen, doch auch sie
schienen das zu spüren, was ich selbst spürte. Kaum
einmal hörte ich das Schnarren einer Elster oder das heisere
Gurren einer Taube. Manchmal ging ich in der Freizeit trotz
meines Unbehagens an der rückwärtigen Seite der Wiese
entlang, deren Grün mir zugleich Erholung und schwarze
Vorbedeutung war. Natürlich war diese Rückseite
für die wenigen Leute, die hier lebten, die Vorderseite. Und
einmal sah ich einen alten Mann in einem löchrigen Mantel
– es war später Winter – und mit einer speckigen
Kappe auf dem grotesk hohen und schmalen Kopf. Atemwölkchen
trieben vor ihm her. Er stand auf dem buckligen Bürgersteig
unter dem dunklen Licht einer Straßenlaterne mit
zersplittertem Gehäuse, reglos, und schaute bisweilen zur
Wiese hinüber, auf der vereinzelte Schneereste wie
Schimmelballen lagen. Er war der erste Mensch, der die Wiese
überhaupt wahrzunehmen schien. Als ich auf seiner Höhe
war, hörte ich, daß er etwas sagte. Er sprach mit
leiser, monotoner Stimme, ohne die schmalen Lippen zu bewegen.
Ich verstand nicht alles, denn ich traute mich nicht,
stehenzubleiben und ihm zuzuhören. Doch als ich an ihm
vorübergegangen war, klangen einige seiner Worte in meinen
frierenden Ohren nach: »Ich muß es verhindern. Zum
ersten Mal verhindern. Bald werden sie wieder kommen.«
    Mich packte eine heftige Erregung, eine bis ins höchste
gesteigerte Unruhe, während ich – äußerlich
unbeeindruckt – zu meiner Behausung ging. Was wollte dieser
Mann verhindern? Wer würde zu der Wiese kommen, und wann? In
jener Nacht konnte ich nicht schlafen. Die Schatten in meinem
Zimmer wisperten in derselben Weise wie der Wind in den
ausgehöhlten Fenstern der Wohnblöcke neben der
struppigen Wiese.
    Am nächsten Tag war ich kaum in der Lage, meine monotone
Arbeit zu tun. Immer mußte ich an den alten Mann mit dem
seltsam hohen und schmalen Schädel denken. Und am Abend,
nachdem ich zuvor auf meinem Heimweg an der Vorderseite der
beunruhigenden Wiese entlanggegangen war und sie still und
verlassen wie immer vorgefunden hatte, brach ich trotz der
atemgefrierenden Kälte nochmals auf. Ich begab mich auf die
Rückseite der Wiese, wo ich den alten Mann gesehen hatte.
Jetzt war er nicht hier. Ich schaute auf das verwilderte Gras,
das im grellen Licht des halben Mondes badete. Die
kümmerlichen Schneeinseln, die auf meinem Heimweg noch
sichtbar gewesen waren, hatten sich nun in Schwärze
aufgelöst. Ich wartete eine Weile unter dem Mondlicht; die
zersplitterte Laterne, die gestern schwach durch die Wolkennacht
geschienen hatte, war nun schwarz und selbst umspielt vom
weißen Mond.
    Da der alte Mann nicht kam, machte ich mich erleichtert auf
den Rückweg. Statt aber die kürzeste Strecke zu nehmen,
ging ich um einen der Häuserblöcke herum, die die Wiese
zwischen sich einzwängten, und schritt noch einmal die
Vorderseite des tümpeldunklen Rasens ab. Da sah ich auf dem
schattenscheckigen Bürgersteig eine schwarze Masse liegen.
Wie versteinert blieb ich stehen. Die Stille lag wie ein dickes
Tuch über der Straße. Kein Mensch war zu sehen –
niemand außer jenem, der da in einiger Entfernung unter dem
gleitenden Mond auf dem verlassenen Pflaster lag. Denn ein
menschlicher Körper war es zweifelsohne.
    Nach einer Zeit, die mir unendlich schien, fiel die Starre von
mir ab, und ich trat an den Körper heran. Er lag auf dem
Rücken; die großen Augen in dem grotesk hohen und

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