Nora Roberts
Minuten lang, hilflos hysterisch geschluchzt.
Sie hatte verzweifelt nach einem Krankenwagen gerufen, hatte sich auf den furchtbaren, nicht enden wollenden Weg ins Krankenhaus gemacht. Und gewartet, endlos gewartet, daß ihre Mutter wieder zu sich kam.
Nun war das Warten vorbei. Amanda war in ein Koma geglitten und von dort in den Tod.
Und vom Tod, so sagte der Priester, ins ewige Leben.
Alle waren der Ansicht, daB es eine Erlösung sei. Der Arzt hatte es gesagt und die Schwestern, die Freunde hatten es gesagt und die Nachbarn, von denen sie angerufen worden war. Während der letzten achtundvierzig Stunden ihres Lebens hatte Amanda keine Schmerzen gehabt, hatte geschlafen, ohne zu leiden, während ihr Körper wie ihr Geist erloschen war.
Nur die Lebenden litten, dachte Shannon jetzt. Nur sie wurden von Schuldgefühlen, von Bedauern, von nicht beantworteten Fragen gequält.
»Sie ist jetzt bei Colin«, murmelte jemand neben ihr. Shannon blinzelte sich in die Gegenwart zurück und sah, daß alles vorüber war. Die Menschen wandten sich ihr bereits zu, und wie schon während der Totenwache wäre sie gezwungen, die tröstenden Worte, das Leid der anderen über sich ergehen zu lassen, bis sie endlich irgendwann alleine war.
Natürlich kämen die meisten Trauergäste noch mit zu ihr. Sie hatte alles vorbereitet, hatte jedes Detail bedacht. Schließlich, dachte sie, während sie mechanisch die Beileidsbezeugungen der Menschen entgegennahm, war sie ein Organisationsgenie.
Die Bestattung hatte sie ordentlich, aber ohne großes Aufhebens arrangiert. Ihre Mutter hätte ein schlichtes Begräbnis gewollt, und Shannon hatte ihr möglichstes getan, damit Amandas letzter Wunsch in Erfüllung ging. Ein schlichter Sarg, schlichte Blumen, schlichte Musik und eine ernste katholische Zeremonie.
Und natürlich hatte sie für die Bewirtung der nach der Feier bei ihr erscheinenden Freunde und Nachbarn gesorgt. Obwohl es ihr unangemessen erschienen war, hatte sie einem Partyservice den Auftrag zur Vorbereitung eines kalten Büffets erteilt, denn sie hatte einfach nicht die Zeit und die Energie zur Vorbereitung eines Mahls gehabt.
Dann endlich war sie allein. Einen Augenblick lang konnte sie nicht denken ... Was wollte sie? Was war richtig, was war falsch? Immer noch kamen weder Tränen noch Gebet. Zögernd legte Shannon eine Hand auf den Sarg, doch sie spürte nichts außer dem von der Sonne erwärmten Holz, roch nichts außer betäubendem Rosenduft.
»Es tut mir leid«, murmelte sie. »So hätte es zwischen uns nicht enden sollen. Aber ich weiß nicht, wie ich es ändern soll. Und ich weiß auch nicht, wie ich mich jetzt von euch beiden verabschieden soll.«
Sie starrte auf den Grabstein, der über dem Hügel stand.
Colin Alan Bodine
Geliebter Mann und Vater
Selbst diese letzten Worte waren eine Lüge, dachte sie und wünschte sich, während sie über den Gräbern der beiden Menschen stand, denen sie ihr Leben lang in inniger Liebe verbunden gewesen war, man hätte ihr die Wahrheit niemals offenbart.
Und dieser starrsinnige, eigensüchtige Wunsch war die Schuld, die sie seit dem Tod ihrer Mutter empfand.
Sie wandte sich ab und ging allein zu ihrem Wagen zurück.
Es erschien ihr wie Stunden, bis sich der Besucherstrom endlich zu lichten und sich Ruhe über das Haus zu senken begann. All die, von denen Amanda geliebt worden war, hatten sich in ihrem Heim versammelt, und erst nach endlosen Verabschiedungen, endlosen Danksagungen, endlosem Entgegennehmen von Bezeugungen des Mitgefühls schloß Shannon endlich, endlich die Tür und war allein.
Müde betrat sie den Raum, der das Arbeitszimmer ihres Vaters gewesen war.
Nach dem Tod ihres Mannes vor elf Monaten hatte Amanda die Akten von dem großen alten Schreibtisch geräumt, seinen Computer, sein Modem, sein Faxgerät und alles andere, was für seine Arbeit als Makler und Finanzberater erforderlich gewesen war, jedoch nicht angerührt. Sein Spielzeug, hatte er diese Dinge genannt, und seine Frau hatte sie behalten, auch nachdem all seine Garderobe – seine Anzüge, seine Schuhe, seine verrückten Krawatten – einer gemeinnützigen Organisation übergeben worden war.
Nicht eins der Bücher hatte sie aus den Regalen entfernt, so daß sich Shannon Steuerratgebern, Immobilienplänen und Buchhaltungstabellen gegenübersah.
Ermattet setzte sie sich in den großen Ledersessel, der ein Geschenk von ihr zum Vatertag vor fünf Jahren gewesen war. Er hatte ihn geliebt, erinnerte sie
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