Nora Roberts
auf der Weide vergnügst. Und wir alle müssen tun, wozu wir geboren sind.«
Er begrüßte die anderen Pferde, teilte weitere Apfelstücke aus, schlang den Arm um den Hals des Einjährigen und blickte über das Land. Überall schossen wilde Hyazinthen und Glockenblumen aus dem Boden, und neben der Mauer brachen die ersten gelben Blüten des Nieswurz auf. Er konnte seinen Silo sehen und die Scheune, die Unterstände, das dahinterliegende Haus, das wie gemalt unter einem mit Wattewolken verzierten Himmel lag.
Mittag war bereits vorbei, dachte er und überlegte, ob er vor seinem Geschäftstermin eine Tasse Tee trinken sollte. Dann blickte er nach Westen, in Richtung des Steinkreises, der hinter der Weide und Feld trennenden Mauer lag.
Und dort war sie.
Sein Herz machte einen Satz, und er fragte sich, ob es wohl immer so sein würde, wenn er sie sah. Es war ein überraschendes Gefühl für einen Mann, der über dreißig Jahre lang nie mehr als ein flüchtiges Interesse an einer Frau gehabt hatte, daß er mit einem Mal einer begegnete und ohne jeden Zweifel wußte, daß sie sein Schicksal war.
Tief in seinem Inneren verspürte er das leidenschaftliche Bedürfnis, sie zu berühren, sie zu kosen, sich mit ihr zu vereinigen, und er dachte, mit Vorsicht und Geduld käme er früher oder später auch ans Ziel. Denn sie empfand ebenfalls etwas für ihn. Er hatte gespürt, wie sich ihr Puls bei seiner Berührung beschleunigte, hatte die Veränderung ihres Blickes gesehen, die ihr Verlangen verriet.
Aber außer seiner Lust nahm er eine tiefe Liebe wahr, eine Liebe, von der er wußte, daß sie schon immer in ihm gewesen war. Also wäre sie zu berühren, sie zu kosen, sich mit ihr zu vereinigen nicht genug. Diese Dinge würden nur der Anfang sein.
»Aber irgendwo muß man ja anfangen, oder nicht?« Murphy strich dem Einjährigen ein letztes Mal über das Fell, ehe er über die Weide ging.
Shannon sah, daß er in ihre Richtung kam. Tatsächlich hatte sie in ihrer Arbeit innegehalten, als sie ihn bei seinen Pferden entdeckt hatte. Es war ein wunderbares Schauspiel gewesen, dachte sie, der Mann mit dem jungen Pferd, beide außergewöhnliche Exemplare ihrer Gattung, zusammen auf dem grünen Feld.
Sie hatte genau gewußt, wann sie ihm aufgefallen war. Trotz der Entfernung hatte sie die Kraft seines Blickes deutlich gespürt. Was will er von mir, fragte sie sich und wandte sich entschlossen wieder ihrer Leinwand zu.
Was will ich von ihm?
»Hallo, Murphy.« Sie malte, als er an die Mauer trat, die trennend zwischen ihnen lag. »Brianna sagte, es würde dir sicher nichts ausmachen, wenn ich eine Zeitlang hier arbeite.«
»Bleib nur, solange du möchtest. Malst du den Steinkreis?«
»Ja. Sieh dir das Bild ruhig an, wenn du willst.« Sie wechselte die Pinsel, wobei sie einen zwischen ihre Zähne klemmte, als er sich über die Mauer schwang.
Sie hatte das Mystische des Kreises genau erfaßt, beschloß Murphy, als er auf die Leinwand sah. Sie hatte die Steine mit einem Talent, das er bewunderte und um das er sie beneidete, auf das Blatt gebannt. Sowohl der Vorder- als auch der Hintergrund waren noch unberührt, aber die Steine waren bereits mit Farbe und Leben ausgefüllt.
»Es ist großartig, Shannon.«
Obgleich sein Kompliment sie freute, schüttelte sie den Kopf. »Es ist noch ein langer Weg, bis man es auch nur ansatzweise großartig nennen kann. Und für heute habe ich nicht mehr das richtige Licht.« Doch sie wußte, den Steinkreis bekäme sie in jedem Licht und aus jedem Winkel hin. »Ich dachte, ich hätte dich vorhin auf deinem Traktor gesehen.«
»Das mag sein.« Er mochte das Gemisch aus Farbe und Parfüm, das ihm in die Nase stieg. »Bist du schon lange am Werk?«
»Nicht lange genug.« Mit gerunzelter Stirn tauchte sie den Pinsel in die Farbe auf der Palette ein. »Um die richtigen Schattierungen hinzubekommen, hätte ich bereits bei Anbruch der Dämmerung anfangen sollen.«
»Ich bin sicher, daß es morgen früh wieder dämmern wird.« Er setzte sich auf die Mauer und klopfte mit einem Finger auf ihren Skizzenblock. »Was bedeutet das CM, das auf deinem Sweatshirt steht?«
Sie legte den Pinsel zur Seite, trat einen Schritt zurück, um sich die Leinwand anzusehen, und wischte sich ihre farbverschmierten Finger an den Ärmeln ab. »Carnegie Mellon. Ein College, auf dem ich gewesen bin.«
»Du hast dort Malerei studiert.«
»Hmm.« Die Steine waren noch nicht lebendig genug, dachte sie. »Eigentlich bin ich
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