Nora Roberts
in ihr Gesicht.
Sie hatte
einen groben Entwurf erwartet, da er noch nicht einmal fünfzehn Minuten
gezeichnet hatte. Stattdessen war es eine sehr detaillierte und einfach
atemberaubende
Zeichnung ihres Kopfes. Es stimmte alles – die Perspektive, die Schatten, der
Schwung der Linien.
Sie wirkte
sehr kühl. Unnahbar. Und sehr, sehr ernst. Das Gesicht einer Zynikerin?, dachte
Dru und ließ dem Lächeln, das um ihre Mundwinkeln spielte, freien Lauf.
»Ich sehe
nicht gerade sehr freundlich aus«, sagte sie.
»Du warst
ja auch nicht gerade freundlich gestimmt.«
»Das ist
unbestreitbar. Ebenso wie die Tatsache, dass du ein erstaunliches Talent
besitzt.« Sie seufzte. »Ich habe keinen langen, weiten Rock und kein
schulterfreies Oberteil.«
Er grinste.
»Dann müssen wir eben improvisieren.«
»Ich gebe
dir morgen früh eine Stunde Zeit. Von halb acht bis halb neun.«
»Okay.« Er
ging zur Wand hinüber, hängte das Gemälde ab und hielt es ihr hin.
»Du bist
sehr vertrauensselig.«
»Vertrauen
wird meiner Ansicht nach sehr unterschätzt.«
Sie nahm
ihm das Bild aus den Händen, und im selben Moment ergriff er ihre Arme. Wieder
hob er sie ein Stück in die Höhe, sodass sie auf den Zehenspitzen stand. In diesem
Augenblick schwang die Wohnungstür auf.
»Meine
Güte, sie klopfen wirklich nie an«, murmelte Seth, als Cam hereinspaziert kam.
»Hallo,
Dru. Küss das Mädchen ruhig während der Arbeitszeit, mein Junge. Ich rieche
gar keinen Kaffee.« Offensichtlich fühlte Cam sich in der Wohnung wie zu Hause
und machte sich auf den Weg in die Küche. Doch dann erblickte er die Leinwand.
Sein Gesicht begann zu strahlen. »So leicht habe ich noch nie fünfzig Mäuse
gemacht. Ich habe nämlich mit Phil gewettet, dass Seth Sie noch vor Ende der
Woche dazu überreden würde, für ihn Modell zu sitzen.«
»Ach,
wirklich?«
»Nichts für
ungut, aber wenn sich unser Rembrandt hier einmal in den Kopf gesetzt hat,
etwas zu malen, dann findet er auch einen Weg, es zu tun. Und er wäre ja auch
ein Narr, eine Chance wie die hier zu verpassen«, fügte er hinzu. Als er erneut
auf die Leinwand blickte, war der Ausdruck auf seinem Gesicht von einem solchen
Stolz erfüllt, dass Drus Wut nachließ. »Er mag einem ja furchtbar auf den
Geist gehen, aber ein Narr ist er nicht.«
»Ersteres
unterschreibe ich gern. Was meine Meinung angeht, ob er ein Narr ist, so halte
ich sie zurück, bis ich ihn besser kenne. Morgen früh halb acht«, fügte sie an
Seth gewandt hinzu und verließ die Wohnung.
Cam sagte
nichts, legte nur seine Handfläche auf sein Herz und vollführte damit eine
pochende Handbewegung. »Kleiner Schleimer.«
»Und willst
du sie nun malen oder befummeln?« Cam brach in johlendes Gelächter aus, als er
Seths wütendes Knurren vernahm. »Tja, mein Junge, ist es nicht wunderbar, wie
sich alles im Leben wiederholt? Du hast dich ja vor nicht allzu langer Zeit
noch von der Vorstellung entrüstet gezeigt, dass wir Mädchen befummeln
– so hast du dich damals zumindest ausgedrückt.«
»Wenn bei
dir fünfzehn Jahre unter > vor nicht allzu langer Zeit < fallen, wirst du
wirklich langsam alt. Bist du sicher, dass du noch auf das Dach steigen
solltest? Vielleicht bekommst du da oben einen Schwächeanfall und fällst
runter.«
»Na warte,
dich schaffe ich immer noch locker, mein Junge.«
»Aber klar.
Wenn Ethan und Phil mich fest halten, hättest du vielleicht eine Chance.« Seth
lachte, als Cam ihn in den Schwitzkasten nahm. »Oh Mann, jetzt krieg ich es
aber mit der Angst zu tun.«
In diesem
Augenblick erinnerten sich beide an jene Zeit, als es tatsächlich so gewesen
war, als ein magerer, kleiner Junge mit frechem Mundwerk bei jeder noch so
kleinen Berührung – ob rau oder sanft – sofort vor Angst erstarrt war.
Und bei der
Erinnerung an jene Zeiten wäre Seth beinahe mit den Schwierigkeiten
herausgeplatzt, in denen er steckte, und die er immer wieder aus seinen
Gedanken zu verbannen versuchte.
Aber er war
doch schließlich schon mehr als einmal mit der Sache fertig geworden und würde
es wieder schaffen, wenn es sein musste.
Seth hielt
Wort. Als das letzte Oberlicht eingesetzt war, folgte er Cam zur
Bootswerkstatt, um dort ein paar Stunden mitzuhelfen.
Früher
hatte er einmal geglaubt, hier irgendwann seinen Lebensunterhalt zu verdienen, Seite
an Seite mit seinen Brüdern zu arbeiten und Holzsegelboote zu bauen. Einige
seiner schönsten Erinnerungen waren mit dem alten Backsteingebäude verbunden,
Erinnerungen,
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